Was würden Sie von einem Buch mit diesem Titel erwarten? »Ökologie der Angst« löste bei mir die Hoffnung auf eine breite, nicht nur neuropsychologische Sichtweise auf das menschliche Phänomen der Angst aus. Doch Angst ist mehr: Sie ist ein biologisches Urphänomen, das auch im Tierreich verbreitet ist. Und der Autor Jens Soentgen, studierter Chemiker und promovierter Philosoph, zudem Leiter des Wissenschaftszentrums Umwelt an der Uni Augsburg, bietet vor allem eine Betrachtung der Angst im Tierreich.
Die Perspektive hierbei ist durchgängig die der Ökologie. Selbige bedeutet ja »Beziehungswissenschaft«. In der Weise, wie schon von Ernst Haeckel, dem Begründer dieses Begriffes im Jahr 1866 definiert: »[…] die gesammte Wissenschaft von den Beziehungen des Organismus zur umgebenden Aussenwelt, wohin wir im weiteren Sinne alle ›Existenz-Bedingungen‹ rechnen können« (S. 7). Schon an dieser Stelle, ganz am Anfang des kleinen Büchleins, denkt man sich: Was könnte die herrschende Psychiatrie reicher sein, nähme sie diesen ökologischen Blickwinkel ein!
Und das, was Soentgen anspricht, ist zentral »eine Ökologie der Subjekte« (Kap. 1). Moment mal, wird vielleicht an dieser Stelle der ein oder andere sagen: Angst bei Tieren und jetzt auch noch Subjekte – wie bitte soll das zusammengehen? Es geht. Denn auch wenn heute die Ethologie als rein positivistische Verhaltensbeobachtung dominiert, ging ihr einst doch die sogenannte Tierpsychologie voraus. Und Konrad Lorenz u.a. studierten Tiere nicht nur als Objekte, sondern verstanden sie auch als Subjekte, waren mit den »inneren, seelischen oder subjektiven Zuständen von Tieren« in Verbindung (S. 38). Erst der »seit den 1970er Jahren rasante Bedeutungsverlust der hermeneutischen Geisteswissenschaften und der parallele Geltungsgewinn der Naturwissenschaften« (S. 20) führte dann zur Orientierung an Äußerlichkeiten und am Experiment, statt zum Verstehen der »Tierseele«.
Und diese Seele bzw. das ganze Tier hat Angst. Angst vor allem vor den Menschen! Und hier lohnt es sich einmal, Zahlen anzuschauen: Sie zeigen überall – bei Säuge- und Wildtieren, bei Meeresbewohnern, Vögeln und Insekten – eine hohe Aussterberate, die hin zur »kollektiven Ausrottung von Tierarten« (S. 88 f.) weist. Das Netz des vielfältigen Lebens wird zunehmend ausgedünnt, nur die Zahl der Menschen erhöht sich scheinbar unaufhaltsam! Aber um diese mittlerweile ca. acht Milliarden Menschen herum kommt es zu einer »globalen Vernichtung nichtmenschlichen Lebens« (S. 111). Und er, der Mensch, ist zum Universalfeind der Tiere geworden, die zur bloßen Ressource erklärt wurden. Die Angst des Tieres vor dem Menschen ist demnach berechtigt! Und der Autor benennt sie gar als Kennzeichen und »Innenseite des Anthropozäns« (Kap. 2).
Was wäre jetzt vonnöten? Wie kann dieses von Menschen errichtete »Ökosystem der Angst« (S. 93) wieder verlassen bzw. zumindest überwunden werden? Soentgen macht da wenig Hoffnung. »Versöhnung mit der Natur ist ein utopisches Ziel«, schreibt er (S. 110). Und weist dennoch zumindest theoretisch den Weg: Es ist die Orientierung am Leitfaden der Angst, die er empfiehlt! Also – kehren wir nach oben zurück – »die Perspektive einer Ökologie der Subjekte« (S. 113), ein Verstehen, der Weg des inneren und emotionalen Naturbezugs. Wir sollten uns mit der Angst, sowohl mit der Angst von Tieren als auch mit unserer Angst als Menschen, beschäftigen, auf sie zugehen, statt sie zu verdrängen. Nur so könne die ökologische Abwärtsspirale aufgehalten werden.
Wechselt man an dieser Stelle mal die Position, verlässt das Buch und fragt sich, was die gegenwärtig herrschende Psychiatrie hierzu beitragen kann, dann stößt man auf eine Wissenschaft, die vornehmlich biologisch und hirnphysiologisch daherkommt, statt sich mit der Seele des Menschen und seinen Beziehungen zu beschäftigen. Es ist ja schon paradox: Da muss sich die heutige biologische Psychiatrie vom Tierreich her sagen lassen, dass sie auf Abwegen ist! Denn wer nur isoliert die (materielle) Außenseite von Ereignissen betrachtet, die Innen- und Beziehungsseite aber vernachlässigt, wird auf Dauer – wie Soentgen es darstellt – destruktiv agieren. Und nicht zur Gesundung von Menschen, Tieren und dem Planeten insgesamt beitragen. Eine ökologische Psychiatrie, die das Leben als Geflecht von subjekthaften Beziehungen sieht, wäre zweifelsohne die bessere Psychiatrie!
Und aus aktuellem Anlass ein Nachtrag: »Die Menschen«, sagt Soentgen, sind heute »an Land zu unangefochtenen Herrschern« (S. 104) über Leben und Tod geworden. Auch vor großen Tieren, wie Löwen oder Elefanten, braucht der Mensch angesichts seiner Waffen keine Angst zu haben. »Nur mehr die Mikroorganismen sind es, die uns weiterhin bedrohen.« Sie wissen, was ich meine!
Jürgen Karres in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 26.04.2024