Bereits 14 Seiten Einleitung machen klar, hier setzt sich der Autor nicht nur mit der biologischen Psychiatrie und medikamentösen Therapie kritisch auseinander. Auch die Selbsttäuschungen der Psychotherapie und die der psychosozialen Intervention werden offen benannt. Die Psychiatrie in ihrer Gesamtheit, so Weinmann, unterliege Selbsttäuschungen, und sie täusche ihre Patienten und deren Angehörigen Behandlungskompetenz vor, obwohl die Erfolge mäßig seien.
Sie leide unter unbewiesenen Annahmen, der Kern ihres tatsächlichen Wissens sei klein. Eigentlich bedürfe es des Erlernens von Verteidigungsstrategien gegen Manipulationen in und durch die Psychiatrie, um unerwünschte Nebenwirkungen wie Chronifizierung zu vermeiden. Als in der Psychiatrie Tätige sollten wir zu Experten für die Entlarvung unserer Manipulationsversuche werden.
In den Kapiteln »Gehirnerkrankungen«, »Medikamentöse Behandlung«, »Ist Psychiatrie eine Wissenschaft?«, »Psychiatrie und Chronifizierung«, »Psychosoziale Determinanten« und »Global Mental Health« führt Weinmann hierzu die Auseinandersetzung, gut belegt mit einzelnen internationalen Studien. Abschließend fordert er noch einmal auf, den Blick kritisch auf uns selbst zu werfen und ihn zu schärfen. Hierfür sei auch ein psychiatrischer Paradigmenwechsel notwendig und dieser sei entlang von sieben Forderungen vorzunehmen.
Zum Teil sind diese gut bekannt, wie die stärkere Förderung von Arbeit und Beschäftigung im sozialen Umfeld oder auch der radikale Abbau der Betten. Manche wirken etwas pauschal und sind daher noch zu präzisieren, wie »Öffnung der Psychiatrie in die Gesellschaft« oder »die Psychiatrie sei durch Erfahrungsexperten zu transformieren«, »vom Sozialen her neu zu denken«.
Stefan Weinmann ist kein durch die Psychiatrie verletzter oder enttäuschter Vertreter der Antipsychiatrie, obwohl sich überraschende Überschneidungen zeigen, sondern ein mustergültiges Mitglied der psychiatrischen Wissenschaftscommunity: praktizierender und forschender Psychiater mit mehrjährigen Auslandserfahrungen, Psychotherapeut mit Abschlüssen der Gesundheits- und Wirtschaftswissenschaften. Diverse wissenschaftliche Beiträge sowie einschlägige Bücher untermauern seinen Anspruch, genau zu wissen, wovon und worüber er schreibt.
Als Angehörige, Psychiatrieerfahrene und auch als beruflich Tätige können wir uns freuen, dass uns quasi ein neuer Klaus Dörner normative und zusätzlich evidenzbasierte Markierungen vorgibt. Die Aufforderung zur selbstkritischen Hinterfragung dessen, was wir im Alltag tun, ist auch eins der Dörnerschen Prinzipien, die wir in der Sozialpsychiatrie sicherlich vernachlässigt haben. Was an Weinmanns Diskursen zu kritisieren wäre, ist, dass er mit dem Begriff der Gehirnerkrankungen und der biologischen Psychiatrie hier und da etwas zu plakativ den Beelzebub an die Wand malt.
Selbst den hartgesottenen Vertretern bildgebender Verfahren, der Neuropsychologie und der Pharmakotherapie ist längst klar, dass die gemeinsame Beteiligung von biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren kaum noch zu bestreiten ist. Und die (psychiatrische) Soziologie, auf die er auch setzt, ist seit Goffman – und trotz Asmus Finzens zahlloser Verweise – kaum über sich hinausgewachsen.
Dennoch: Stefan Weinmanns »Vermessung der Psychiatrie« ist ein überfälliges, gerade als Korrektur der Routinen des Alltags notwendiges Buch. Eindeutig Pflichtlektüre und daher nicht nur den ambulanten und klinischen Behandlern und Mitarbeiterinnen auf den Schreitisch zu legen, sondern auch denjenigen, die in den diversen Fachverbänden aktiv sind. Wir alle, ob engagierter Psychiatrieerfahrener oder Angehöriger, sollten Weinmanns Aufforderung, sich der eigenen Selbsttäuschungen bewusst zu werden, aufgreifen, ernst nehmen und uns fragen, was wir da tun, wem es tatsächlich nützt. Gefeit vor Selbsttäuschungen ist niemand.
Christian Zechert in Psychosoziale Umschau
Letzte Aktualisierung: 14.08.2024