Die Publikationen, in denen die lange Zeit mit einem Heiligenschein versehene Inklusion einer umfassenden Kritik vollzogen wird, häufen sich. Interessanterweise zu einem Zeitpunkt, an dem das Bundesteilhabegesetz zur Stärkung der Selbstbestimmung und Teilhabe für Menschen mit Behinderung verabschiedet wurde.
Der Begriff der Inklusion wurde von seinen Verfechtern in erster Linie dazu verwendet, die Selbstverständlichkeit des Einschlusses behinderter Menschen in die Gesellschaft in den Mittelpunkt zu stellen. Die Gesellschaft sollte endlich Menschen, die anders sind, mit Begeisterung in ihrer Mitte aufnehmen und dadurch den mühsamen pädagogischen Prozess der Integration überflüssig machen.
Michael Winkler, frisch emeritierter Lehrstuhlinhaber für Allgemeine Pädagogik und Theorie der Sozialpädagogik in Jena hat seine Kritik der Inklusion zum Abschied seiner institutionellen professoralen Tätigkeit verfasst. Er begreift den Diskurs der Inklusion als Totalstrategie, die in eindimensionaler und sozialtechnokratischer Weise die Subjektivität der Menschen mit Behinderung missachtet.
Sein, im Wesentlichen auf den Geist Adornos gestützte Gegenstrategie besteht darin, die »Menschen in ihrer Lebendigkeit, in ihrem Eigenwillen und der Absicht zu begreifen, sich selbst zu erfassen, zu entwerfen, zu bestimmen und zu verwirklichen « (S. 7). Er sieht zu Recht die Gefahr, dass der nicht selten praktizierte räumliche Einschluss von Menschen mit schweren Behinderungen zu einem Einschluss in die gesellschaftliche Anpassung wird. Aus der Inklusion würde damit eine Exklusion auf höherer Ebene werden, nämlich der Ausschluss der individuellen Verschiedenheit.
Im Unterkapitel »Die soziale Wirklichkeit der Inklusion – ein kleiner Umweg« führt der Autor die literarischen Werke von Robert Seethaler an, in denen ausschließlich Außenseiter in ihrer schwierigen Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Norm beschrieben werden. Alles Personen, die nicht wirklich inkludiert sind, aber eine »willensstarke Verletzlichkeit« besitzen, die ihre Subjektivität sichtbar werden lässt. Im abschließenden Kapitel wird Inklusion darauf aufbauend als ethische Frage diskutiert. Winkler spricht von kühler Nüchternheit, »die Behinderung als Lebensfaktum begreift, mit dem dann in einer Weise umzugehen ist, wie sie von den Subjekten gewünscht ist oder ihre Zustimmung findet« (S. 157).
Die Chance der Inklusionsdebatte sieht er darin, dass die »Spannung im Denken aufrechterhalten wird« (S. 162). Individualität und Auseinandersetzung statt Einheitsbrei und Harmonie. Damit steht der Autor mitten in der Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes. Dieses spricht nicht mehr in erster Linie von Inklusion und Anpassung, sondern von Teilhabe und Selbstbestimmung. Er nimmt ein wichtiges Prinzip der UN-Behindertenrechtskonvention auf, das in der Inklusionsdebatte untergegangen ist: Diversity.
Die Menschen sind unterschiedlich und haben unterschiedliche Vorstellungen über das Leben, auch Menschen mit Behinderung haben das Recht, mit ihrem Anderssein teilzuhaben. Aber sie brauchen Unterstützung, um die gesellschaftlichen Barrieren zu überwinden, von denen das BTHG endlich sieht, dass es nicht nur umweltbedingte, sondern auch einstellungsbedingte Barrieren gibt.
Michael Winklers Buch ragt unter den kritischen Büchern zur Inklusion, wie z. B. die Inklusionslüge, heraus, weil es kein akademisches Buch im schlechten Sinne ist, sondern ein engagiertes Buch. Es gelingt ihm, mit seiner dialektischen Sicht der Dinge die Uniformität der Inklusion als Illusion zu entlarven und den Leser von dessen Ende zu überzeugen.
Michael Konrad in Sozialpsychiatrische Informationen
Letzte Aktualisierung: 26.04.2024