Die Durchführung ärztlicher Zwangsbehandlungen bei Patientinnen und Patienten mit einer psychiatrischen Diagnose ist in den vergangenen Jahren (weit über Fachkreise hinaus) kontrovers diskutiert und infolgedessen durch Rechtsprechung und Gesetzgebung an strengere Kriterien geknüpft worden. Einerseits gilt die informierte Einwilligung auch in vulnerablen Situationen als unabdingbare Voraussetzung für jegliche Art von medizinischen Eingriffen. Andererseits gehört es zur Eigenart psychischer Erkrankungen, dass die betroffenen Personen häufig keine realistische Einschätzung ihrer aktuellen Situation mehr treffen können und aus diesem Grund einen bestehenden Behandlungsbedarf womöglich verkennen.
Ärzte, Richter und Betreuer geraten somit in das ethische Dilemma, dass das gesundheitliche Wohlergehen der ihnen anvertrauten Klientel unter Umständen nur unter bewusster Missachtung des (verbal oder nonverbal) geäußerten Patientenwillens verbessert werden kann. Der Erlanger Theologe Matthias Braun arbeitet in seiner Dissertation die sozialanthropologischen Implikationen von derartigen Konflikten heraus, die sich mit einer strikten Gegenüberstellung von Autonomie und Fürsorge gerade nicht angemessen beschreiben lassen. Wenn jemand trotz gegenteiliger Willensbekundungen einer psychiatrischen Therapie unterzogen wird, äußert sich hierin in der Regel ja nicht einfach paternalistische Bevormundung, sondern vielmehr ein ernsthaftes Anliegen, qualifizierte Selbstbestimmung aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen.
Nichtsdestotrotz belegen empirische Studien, dass die betroffenen Personen ein solches Vorgehen nicht nur in der Situation selbst als demütigenden bis gewalttätigen Eingriff in ihre körperliche und seelische Integrität empfinden – sondern häufig sogar dann, wenn sie die therapeutische Maßnahme als solche im Nachhinein als gerechtfertigt anerkennen. Der Autor kritisiert das in der Medizinethik übliche Autonomiemodell, welches nach seiner Einschätzung die gesellschaftlichen Ermöglichungsbedingungen individueller Selbstverwirklichung nicht hinreichend in den Blick nimmt. Ihm stellt er – in kritischer Auseinandersetzung mit einer Vielzahl an philosophischen Referenztheorien – ein responsives Verständnis menschlicher Subjektivität gegenüber, wonach diese durch intersubjektive Anerkennungsprozesse konstituiert wird.
Wenn personale Identität aber immer schon als antwortendes Anschlussgeschehen »an eine ergangene Anrede« (S. 111) gedacht werden muss, ist das Ineinander-verwoben-Sein von Autonomie und Fürsorge kein Sonderfall psychiatrischer und neurologischer Grenzsituationen, sondern liegt in der prinzipiellen Angewiesenheit jedes leiblichen Selbstbezugs auf die vorauslaufende Ansprache durch ein anderes Selbst begründet. Demnach geht selbst bei sogenannter Einwilligungsunfähigkeit die »in einem Beziehungsgeschehen« (S. 156) verankerte Autonomie niemals verloren, auch wenn deren Vollzugsmöglichkeiten eingeschränkt oder abgebrochen sind. Autonomie anzuerkennen zielt deshalb noch vor jeder Berücksichtigung aktiver Selbstbestimmungspraktiken zuallererst auf den passiven Fundamentalanspruch, nicht verletzt zu werden.
Als ethische Grundforderung für den klinischen Umgang mit psychischer Devianz kann festgehalten werden, dass die betroffenen Personen gerade in ihrer spezifischen Verletzlichkeit als gleichberechtigte Subjekte geachtet werden müssen. Angesichts der faktischen Fragilität sowohl politischer und rechtlicher als auch zwischenmenschlicher Anerkennungsverhältnisse ist der praktische Würdevollzug stets gefährdet. Bezeichnenderweise stellt »das Gefühl, nicht mehr als Person gehört, gesehen und behandelt zu werden, eine der Hauptschwierigkeiten psychiatrischer Kontexte« (S. 256) dar.
Das stellvertretende Eintreten für einen anderen Menschen gegen dessen Willen lässt sich daher ausschließlich unter der Bedingung legitimieren, dass es darauf abzielt, ihm Anerkennungs- und Gestaltungsräume seines personalen Selbstbezugs zu eröffnen – und nicht zu verschließen. In diesem Rahmen sieht der Autor psychiatrische Zwangsbehandlungen als vertretbar an, sofern sie als Ultima Ratio an prozedurale Vorgaben gebunden werden.
Es ist das große Verdienst dieser anregenden (wenn auch nicht immer besonders verständlich formulierten) Untersuchung, philosophische Begründungsfiguren eines relationalen Verständnisses personaler Selbstbestimmung in großer Akribie zusammengestellt und durchdacht zu haben. Leider fehlen über weite Strecken veranschaulichende Bezugnahmen auf die medizinische und juristische Praxis. Die Lektüre hilft daher kaum bei der konkreten Lösung individueller Handlungskonflikte, sondern dient eher einem tieferen Verständnis der anthropologischen Grundsituation, in der stellvertretende Entscheidungen über die gesundheitliche Zukunft psychisch kranker Menschen getroffen werden.
Lars Klinnert in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 26.04.2024