Wie gehen einzelne Akteure und Gruppen im Versorgungssystem (Patienten, Angehörige und Ärzte) mit der Stärkung der Patientenrechte um? Welche Auswirkungen hat diese Stärkung auf Zwangshandlungen in der Psychiatrie? Diesen Fragen ging Franziska Hüther in ihrer Dissertation am Beispiel der verweigerten Zwangsmedikation nach.
Insgesamt wurden elf Patientinnen und Patienten befragt, die während eines unfreiwilligen Klinikaufenthaltes schon einmal Medikamente verweigert hatten. Hierbei wurde die Stichprobe auf die Diagnosen Schizophrenie und Manie beschränkt, da diese Gruppe am häufigsten von Zwangsbehandlungen betroffen ist. Weiterhin wurden acht Angehörige sowie sieben Gesundheits- und Krankenpflegefachkräfte und sechs Ärzte und Ärztinnen aus dem klinischen Bereich interviewt. Mit allen 32 Probanden führte Hüther Leitfadeninterviews, in denen nach dem eigenen Erleben der Situation gefragt wurde, aber auch danach, wie sich die Beteiligten gegenseitig erleben oder welche Lösungsansätze die Akteure ggf. sehen.
Hüther selbst arbeitet als Ärztin in der Herz- und Gefäßchirurgie und wurde in dieser Arbeit von der Psychologin Susanne Jaeger sowie von ihrem Doktorvater Tilman Steinert, Ärztlicher Leiter der psychiatrischen Klinik Weissenau, unterstützt. Eindrucksvoll gelingt es ihr, die unterschiedlichen Perspektiven von Patienten, Angehörigen, Ärzten und Pflegepersonal herauszuarbeiten. Die befragten Patienten beklagen hauptsächlich die paternalistische Haltung des Personals und deren Hilflosigkeit. Durch die Verweigerung der medikamentösen Behandlung werde dem Personal offenbar die einzige Handlungsoption genommen.
Die Angehörigen durchleiden Konflikte, sorgen sich und fühlen sich im Zwiespalt zwischen Helfen-Wollen und Hilflosigkeit. Es wirkt, als nähmen sie eine Art Komplizenrolle gegenüber dem Personal ein, indem sie die Patienten nicht nur durch Gespräche zu überzeugen versuchen, Medikamente einzunehmen, sondern teilweise bei Verweigerung Sanktionen androhen, was wie die Aberkennung der Selbstständigkeit der Betroffenen wirkt. Die professionellen Studienteilnehmer berichten, wie die Einschränkung der Handlungsspielräume dem Anspruch an die eigene fachlich kompetente Arbeit gegenübersteht.
Das Pflegepersonal etwa sieht die Patienten, die keine Medikamente einnehmen, als unbehandelt an, befürchtet negative Auswirkungen auf die soziale Situation im klinischen Alltag und erwartet zukünftige Zwangsmaßnahmen. Ihre Arbeit sei generell anstrengender geworden. Häufig werde versucht, Patienten zur Medikamenteneinnahme zu motivieren, man könnte es auch als überreden bezeichnen. Demgegenüber wird die Stärkung der Beziehungsarbeit als wichtiges Element genannt.
Die Ärzte bedauern, dass viele Patienten unbehandelt blieben und entsprechend entlassen werden, es wird aber auch von frühzeitigen Reduktionsangeboten und Absetzverträgen berichtet. Ein Arzt meint, dass es ohne medikamentöse Zwangsbehandlung gehe, denn »es ist doch gar nicht einzusehen, wieso die Menschenrechte, also das Recht auf körperliche Unversehrtheit, dass das weniger gilt, nur weil jemand nicht einwilligungsfähig hinsichtlich einer Behandlung ist«. (Die Zitate sind im Buch mit Ersatznamen gekennzeichnet.)
Die Autoren beschreiben nachvollziehbar die Konflikte der befragten Personen. Besonders schwierig erscheint die Rolle der Angehörigen, die sich oft extrem belastet und allein gelassen fühlen. Das Fazit der Autoren ist, dass eine patientenzentrierte Behandlung eine Annäherung der Perspektiven ermöglichen könnte und die gemeinsame Entscheidungsfindung sowie Behandlungsvereinbarungen zur Stärkung der Patientenautonomie beitragen können. Sie empfehlen, auf Stationskonzepte zu setzen, die sich an Gewaltfreiheit und Deeskalation orientieren.
Die Arbeit zeigt deutlich, wenn auch nur an einer kleinen Stichprobe, wie das Denken der professionell Tätigen oftmals von den Zwängen der Institutionen geprägt ist. Das Wohl der Patienten wird zwar als primäres Ziel der Behandlung betont, gleichzeitig zeigt sich aber eine eher gut meinende paternalistische Haltung. Beziehungsarbeit sei wichtig, aber dann doch vor allem in Bezug darauf, dass die vom Personal vorgeschlagene Behandlung gewählt wird. Auch wenn die vorgeschlagenen Lösungen nicht neu sind, ist Hüthers Arbeit ein Aufruf, weiter intensiv an der Reduktion psychiatrischer Zwangsmaßnahmen und an der Vermittlung einer sozialpsychiatrischen Grundhaltung zu arbeiten.
Wünschenswert ist, dass zukünftig kein Patient mehr sagen muss: »Einer der stärksten Eingriffe in die Menschenwürde, die es zurzeit gibt, ist die Zwangsmedikation.«
Patrick Nieswand in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 26.04.2024