Angehalten wird man nicht nur an der Straßenkreuzung, sondern auch schon mal in seiner ganzen Lebensweise. Wenn ich in diesem Sinne angehalten werde, damit andere geschützt werden, die ich potenziell gefährde, dann bin ich laut Ulrich Lewe »vorbeugend angehalten«. So führt der Autor in seine Gedanken und Begrifflichkeiten ein und begibt sich mit dem Leser auf eine intensive Recherche zu Funktion und Wirksamkeit des Maßregelvollzugs in Deutschland, den er als das »Schwarze Loch im Psychiatrieuniversum« bezeichnet.
Ulrich Lewe ist Mitautor des im März 2022 veröffentlichten »Plädoyer für eine Transformation der Maßregeln«, mit dem die DGSP weitgehende Reformen fordert. Er ist ein Kenner des Systems, war jahrelang als Psychologe forensisch tätig. Mit der umfassenden Kritik am Maßregelvollzug in dieser Arbeit vertieft er die Argumentation des DGSPPlädoyers, nimmt Bezug auf aus der NS-Zeit stammende Rechtsgrundlagen, den Schutzbedarf als vermeintlichen Fortschritt – eine Perspektive, die häufig längeren Freiheitsentzug begründet – und auf die Dysfunktionalität des Systems. Dabei stellt er immer wieder die Situation der Betroffenen in den Mittelpunkt.
Lewe pflegt eine prägnante Sprache und wendet sich immer wieder direkt an die Leserschaft: »Damit seien Sie, liebe Leserin, lieber Leser, vorgewarnt. Folgen Sie jetzt dem Autor auf das glatte Parkett der Seelenvermessung und beurteilen Sie, ob er Pflicht und Kür mit einer Bruchlandung oder akzeptabler Benotung hinter sich bringt.« (S. 44)
Nach einer Einleitung und der Darstellung der Rahmenbedingungen (Punitivität des Maßregelvollzugs, UN-BRK und tatsächliche Diskriminierung, Willkür des Systems) arbeitet sich Lewe in den Kapiteln 3 bis 5 zunächst an den drei von ihm so bezeichneten »Glaubensgrundsätzen der forensischen Psychiatrie« ab: »1. Der Verrückte ist gefährlicher als der Normale.«, »2. Die Gutachterei ist Wissenschaft und keine Spökenkiekerei.« und »3. Im Psychoknast ist gut Therapieren.«
Lewe sieht den Maßregelvollzug als boomende Branche mit hohen Zuwachsraten bei der Kundenakquise und -bindung und sieht dies als Anreiz für die Kliniken, ihre Plätze auszubauen. Die künstliche Welt der Kliniken bezeichnet er als Kolonien oder »Shutter Islands« (nach dem Roman »Shutter Island« von Dennis Lehane), auf denen es eine Zwei-Klassen-Gesellschaft der »Bearbeiter« und der »zu Bearbeitenden« gibt, in der Letztere juristisch entbürgerlicht werden. Anhand von Zahlen und realen Beispielen stellt er die Willkür des Systems dar, in dem die Unterbringungsdauer vom Wohnsitz und Bundesland abhängt und Lockerungen von Patientenmerkmalen unabhängig sind.
Der von Lewe so betitelte »zweite Glaubensgrundsatz« sagt aus, dass das Gefährdungspotenzial eines Menschen durch die Methodik der Gutachten zuverlässig dargestellt werden könne. Dem stellt Lewe mehrere Studien entgegen, die zeigen, dass ein »angemessener sozialer Empfangsraum die Rückfalldelinquenz forensischer Patienten minimiert«. Eher führe die Abschottung in der »totalen Institution« zur »Hospitalisierung oder Prisonisierung« der angehaltenen Menschen.
Nachdem der Autor in Kapitel 6 faktenreich aus der Historie von Psychiatrie und Maßregelvollzug berichtet, geht es in den Kapiteln 7 und 8 um einen Ausblick bzw. um Strategien der »Dekolonisierung«, wie er es bezeichnet. Zunächst lässt Lewe ausführlich Stimmen selbst angehaltener Menschen zu Wort kommen. Doris Steenken, Mitglied des Fachausschusses Forensik der DGSP, erzählt auf schonungslose und berührende Weise ihre persönliche Geschichte. Im Bericht von Hartmut Fleiß, Mitglied der Besuchskommission Karlsruhe, wird die Hilflosigkeit forensischer Patienten und Patientinnen eindrucksvoll dargestellt und an einem Einzelbeispiel illustriert. Immer wieder zeigt Lewe im europäischen Vergleich, dass es in der EU viele verschiedene Arten im Umgang mit psychisch erkrankten Straftätern gibt. Dies wird am Beispiel Italien ausgeführt, wobei Lewe einerseits hoffnungsvolle Aussichten, aber auch Schwächen in diesem System darstellt.
Teilweise formuliert Lewe polemisch, greift Institutionen des Fachgebiets an, beispielsweise die interdisziplinäre Task-Force der DGPPN, von der die »Standards für die Behandlung im Maßregelvollzug nach §§ 63 und 64 StGB« verfasst wurden, die er immer wieder aufgreift und zu widerlegen versucht. Was ist die Lösung, um das Schwarze Loch im Psychiatrieuniversum aufzuhellen? Sind es die Schlüsse, die im DGSPTransformationspapier gezogen werden? Wohin führen die dringend notwendigen Diskussionen, die gerade, vor allem angestoßen durch die DGSP, auf vielen Ebenen geführt werden?
Das mitreißende Buch ist nicht nur Menschen, die im Maßregelvollzug tätig sind, sehr zu empfehlen. Die Mauern zwischen Forensik, Akutpsychiatrie und Gemeindepsychiatrie müssen dringend abgebaut und durchlässiger gemacht werden. Dieses Buch ist dazu ein wichtiger Beitrag.
Patrick Nieswand in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 26.04.2024