Bereits in dritter Auflage liegt nun das »Praxisbuch Forensische Psychiatrie« von Friedrich Schmidt-Quernheim und Thomas Hax-Schoppenhorst vor. Was 2003 unter dem Titel »Professionelle forensische Psychiatrie« mit einem Umfang von 235 Seiten begann und in zweiter Auflage 2008 unter gleichem Titel schon 436 Seiten hatte, liegt nun in vollständig überarbeiteter und erweiterter Auflage als »Praxisbuch Forensische Psychiatrie« mit stattlichen 800 Seiten vor.
Vergleicht man die Entwicklung dieses Handbuchs, wird deutlich, wie stark sich der Maßregelvollzug in Deutschland innerhalb dieser 15 Jahre verändert hat. Diese Entwicklung, vor allem aber die Grundlagen der forensischen Psychiatrie werden in den 14 Kapiteln des Praxisbuchs dargestellt und – und um es vorab zu sagen – dem Anspruch, ein übersichtliches und verständliches Handbuch für Praktikerinnen zu sein, gerecht.
Am Beispiel des Kapitels zu den rechtlichen Grundlagen soll hier kurz aufgezeigt werden, wie die vielfältigen Veränderungen und Neuerungen im Feld der forensischen Psychiatrie erfasst wurden. Das Kapitel beinhaltet neben den grundsätzlichen Vorgaben und Rahmenbedingungen (Schuldfähigkeit, Gemeingefährlichkeit, Maßregeln der Besserung und Sicherung, Vollzugsrecht auf Länderebene und bundeseinheitliche Vorgaben, Lockerungen, Datenschutz und Offenbarungspflicht) auch die jüngste Novellierung des Maßregelrechts und ihre Auswirkungen auf die Rehabilitation. Neu aufgenommen wurde u.a. der Themenkomplex Willensfreiheit, Schuld und Strafe. Damit ist das Kapitel zu den rechtlichen Grundlagen weitgehend neu formuliert und gestaltet.
Neben der Einführung in die gesetzlichen Grundlagen findet sich im Sinn eines philosophischen Dialogs auch eine Auseinandersetzung mit normativen Begriffen des Fachgebiets. Deutlich wird dabei, dass die forensische Psychiatrie – und damit die Vollzugseinrichtungen – einem steten Wandel unterliegen, der auch Ausdruck für das Aufholen von Reformveränderungen ist, die in anderen Bereichen der Psychiatrie längst stattgefunden haben, auch wenn sie auch dort noch nicht zu Ende geführt sind. In vergleichbarer Qualität und fachlicher Differenzierung erfolgen die Darstellungen zu den stationären und ambulanten Behandlungsangeboten, einzelnen Patientengruppen, psycho- und soziotherapeutischen Maßnahmen, zur Patientenperspektive (mit Beiträgen betroffener Patienten) und zur (fach)psychiatrischen Pflege.
Die Vielfalt der Beiträge und Aspekte ist groß, womit auch dokumentiert wird, dass die Breite der fachlichen Entwicklung im forensischen Feld enorm ist. Auffallend ist allerdings, dass die Darstellung der einzelnen Themen unterschiedlich viel Raum einnimmt. So wurden der forensischen Pflege und der Klinikseelsorge ein eigener Abschnitt bzw. ein eigenes Kapitel gewidmet, dem Beitrag der Sozialen Arbeit gerade einmal zwei Seiten. Ähnlich knapp gehalten sind auch die Hinweise zu Sport-, Musik- und Ergotherapie. Ausführlich geht Herausgeber Schmidt-Quernheim in dem von ihm verantworteten Kapitel auf die Überleitung und Nachsorge forensischer Patienten ein. Die Entwicklung der forensischen Psychiatrie hat in den letzten zwanzig Jahren zu einer deutlichen Annäherung zwischen den Versorgungssystemen der Forensik und Sozialpsychiatrie geführt, der Maßregelvollzug war und ist (und wird hoffentlich) durch eine strukturelle Öffnung geprägt.
Entsprechend hat die Bedeutung entlassvorbereitender Maßnahmen zur Erprobung im außerforensischen Umfeld und die mit der Reform der Führungsaufsicht 2007 eingeführte strukturierte forensische ambulante Nachsorge an Bedeutung gewonnen. Die Rahmenbedingungen dieser Öffnung, die praktisch-methodischen Aspekte, fachliche, Standards (Casemanagement, Fallkoordination) sowie verschiedene Entlassszenarien werden ausführlich dargestellt. Breiten Raum nimmt auch die Bedeutung des Maßregelvollzugs in der modernen Gesellschaft ein. Am Beispiel des »Falls Mollath« und die (nicht nur) in diesem Zusammenhang geführte öffentliche Debatte um die Praxis des Maßregelvollzugs, die gerichtlichen Besonderheiten eines Sicherungsverfahrens im Allgemeinen (und im Speziellen des Falles) werden dargestellt und diskutiert.
Deutlich wird dabei, dass viele Kritikpunkte an der Einweisungs- und Begutachtungspraxis, Behandlungsrealität und Wiedereingliederungsproblemen in Fachkreisen schon lange vor der »Skandalisierung» (685) des »Falls Mollath« angemahnt wurden, aber eben erst in jüngster Zeit zu ersten Reformen führten. Deutlich wird dabei auch, dass das Ende des Reformprozesses im Maßregelvollzug noch lange nicht erreicht ist. Vor allem die weitere Verankerung der forensischen Psychiatrie in den professionellen (nicht forensischen) Versorgungsstrukturen und insgesamt das »Ankommen« des Maßregelvollzugs in der Gesellschaft sind – und bleiben – eine Aufgabe im Sinn eines »ständigen Lernprozesses« (705).
Insgesamt bietet das inhaltlich komplett überarbeitete und stark erweiterte Praxishandbuch fachlich fundierte, klar gegliederte, an der Praxis orientierte Informationen, die für alle mit forensischen Patienten arbeitende Berufsgruppen unverzichtbar sind. Es formuliert den State of the Art des Fachs und der betroffenen angrenzenden Nebengebiete.
Den Herausgebern ist es dank einer äußerst klugen Auswahl der 62 beteiligten Autorinnen und Autoren gelungen, ein komplexes, dabei durchgängig lesbares, zuverlässiges und trotz seines Umfangs übersichtliches Fachbuch zusammenzustellen. Es ist das Standardwerk der Praxis in der stationären und ambulanten forensischen Psychiatrie und im gesamten sozialpsychiatrischen Feld. Auch in der dritten Auflage darf es in keiner Einrichtung fehlen, in der psychisch kranke Straftäter behandelt und betreut werden.
Gernot Hahn in Psychosoziale Umschau
Letzte Aktualisierung: 26.04.2024