Erstmals 1986 von Venzlaff als praxis-orientiertes Handbuch der forensischen Psychiatrie herausgebracht, erscheint das Buch "Psychiatrische Begutachtung", nun in der Herausgeberschaft von Foerster und Dreßing, in fünfter Auflage, und allein diese Tatsache weist darauf hin, dass der Anspruch, ein Nachschlagewerk für forensische Praktiker zu sein, voll und ganz eingelöst wurde.
Nebenbei mag es im Darwinjahr 2009 gewissermaßen als Paradefall einer extrabiologischen Bestätigung evolutionistischer Höherentwicklung angesehen werden, hat sich doch das ursprünglich angelegt. Konzept des forensischen Altmeisters Venzlaff durch inzwischen fast ein Vierteljahrhundert bewährt und zugleich mit den seither vonstattengegangenen Veränderungen in Gesellschaft, Psychiatrie und Rechtsprechung inhaltlich wie auch didaktisch Schritt gehalten.
Wie schon in früheren Auflagen, handelt es sich um ein Viel-Männer-Buch, das den Vorteil hoher spezialisierter Sachkunde der einzelnen Autoren mit einer konzeptionellen Einheit zu verbinden weiß. Auch das Ernstnehmen des Anspruchs, Ärzte und Juristen gleichermaßen anzusprechen, wurde bei der Auswahl der Beiträge und deren Verfasser beibehalten; es kann also von einer ausgewogenen psychiatrisch-psychologischen und juristischen Autorenschaft gesprochen werden.
Wie die Herausgeber zu Recht betonen, wurden die meisten der 45 Kapitel gegenüber der vierten Auflage neu geschrieben, sodass sie hohe Aktualität besitzen. Erfreulich ist auch die ausführliche Darstellung der Chancen und Probleme des Maßregelvollzugs; dass dabei dezidierte Positionen eingenommen werden, die nicht immer auf ungeteilte Zustimmung stoßen dürften, ist offensichtlich beabsichtigt, wird auf alle Fälle den Leser erfrischen und ihn dort, wo er sich mulmig fühlt, zu eigenen Überlegungen anregen.
Dabei finden sich, im Sinne einer solchen Anregung zur Diskussion, durchaus plurale Positionen zu verschiedenen Themenbereichen, etwa zu den "psychopathischen" Persönlichkeiten, von eher biologisch inspirierten bis zu psychotherapeutischen Überlegungen etwa von Pfäfflin im Zusammenhang mit Sexualstraftätern.
Nur beispielhaft können einige Kapitel herausgehoben werden, die besonders brisante Gegenstandsbereiche aufnehmen, so der Beitrag von Hoff und Venzlaff über die psychiatrische Begutachtung von Suizidhandlungen, wo sie speziell auch auf die Problematik des assistierten Suizids eingehen (S. 863), der inzwischen bei unseren niederländischen Nachbarn einen rasant expandierenden neuen Markt beschäftigt, oder der Beitrag von Günter über die strafrechtliche Begutachtung von Jugendlichen und Heranwachsenden, der auf die juristische Debatte über das Verhältnis zwischen Reifebeurteilung und Schuldfähigkeitsbeurteilung gemäß §§ 20, 21 StGB hinweist (S. 713).
Von vielen forensischen Praktikern wird sicher auch das Kapitel von Graw und Thieme über rechtsmedizinische Ansätze zur Befundinterpretation und Bewertung bei Delikten unter Alkohol- und Drogeneinfluss mit Interesse nachgelesen. Aktualisiert werden die Informationen künftig durch ein dazugehöriges Online-Angebot.
Zusammenfassend lässt sich der schwere Foliant von nur wenig weniger als Tausend Seiten nur dringend für alle empfehlen, die ihn sich leisten – nein: nicht können, sondern müssen: Instituts- und Klinikbibliotheken, Maßregelvollzugseinrichtungen und natürlich alle, die es sich trotz ihrer alltäglich sie verschlingenden forensischen Tätigkeit nicht nehmen lassen wollen, nicht bloß mit dem sehr ausführlichen Register zielgerecht auf Stichworte zu springen, sondern sich in spannende Einzelfragen zu vertiefen.
Herbert Steinböck in Recht & Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 26.04.2024