Der Untertitel weist darauf hin: Menschenrechte und therapeutische Kulturen in der Psychiatrie. Damit machen die Autoren gleich zu Beginn darauf aufmerksam, dass die antipsychiatrische Sichtweise im Werk keinen Niederschlag findet.
Diese klare Ab- und Eingrenzung, die sich allein aus dem Haupttitel nicht herleiten lässt, ist vermutlich auch persönlichen Erfahrungen auf Herausgeberseite geschuldet. Den schwelenden Konflikt gerade zu den antipsychiatrisch geprägten Protagonisten der Psychiatrieerfahrenenszene bringt Rainer Höflacher in seinem Beitrag "Zwangsmedikation: Ultima Ratio oder No-Go" denn auch offen zur Sprache.
Das Gedankenexperiment, wie eine Behandlung von psychiatrischen Störungsbildern hierzulande vielleicht auch ohne eine Institution Psychiatrie mit Sondergesetzen für eine besondere Patientengruppe gelingen könnte, wird in diesem Buch weitestgehend ausgespart. Diese Eingrenzung tut der horizonterweiternden und kurzweiligen Lektüre dieses Buches jedoch keinerlei Abbruch.
Das große Verdienst dieses Werkes ist sicher die Aufbereitung eines gesellschaftspolitisch relevanten und komplexen Stoffes in laienverständliche Sprache, trialogische Vielstimmigkeit und klare Struktur. Einzig das stark biografisch-eingefärbte Fragment des zwischenzeitlich völlig unverhofft verstorbenen Klaus Laupichler irritiert in der sehr schlüssigen Komposition der Beiträge den Lesefluss und lässt offenbar von den Herausgebern gewollt Fragen offen. Jeder Beitrag in diesem Buch ist lesenswert, fügt er doch dem Gesamtbild neue fachlich sowie persönlich motivierte Betrachtungen hinzu, ohne sich in der Gemengelage zwischen Sach- und Beziehungsebene zu verstricken. Damit ist ein großes Kunststück gelungen!
Hilfreich ist allem voran eine Darlegung von nicht deckungsgleichen juristischen Einschätzungen auf internationaler und nationaler Ebene sowie auf Bundes- und Länderebene. Valentin Aichele bringt "Denkfehler" in juristischen und medizinischen Fachkreisen erfrischend prägnant zur Sprache und spannt dabei einen Bogen von der im deutschen Rechtssystem historisch-tradierten "Ultima-Ratio-Falle" bis hin zur Vermengung von diagnosespezifischer, stigmatisierender "Gesundheitsfürsorge mit einer polizeirechtlichen Ordnungsfunktion". Auch das konzeptionelle Konstrukt der "krankheitsbedingten Nichteinsichtsfähigkeit" sieht er kritisch. Unmissverständlich wie lapidar stellt Aichele von seiner übergeordneten Warte aus fest: "Maßstab aller Dinge sind die Menschenrechte."
Mit dieser kompromisslos-humanistischen Positionierung geht er vermutlich nicht mit allen Autoren im Buch konform. Große Übereinstimmung gibt es bei den Buchautoren hingegen implizit und explizit darin, dass die Suche nach milden institutionell verankerten Alternativen zur Zwangsbehandlung große Erfolge verheißt. Veränderungen der Kommunikation, der Beziehungsarbeit, der Organisation, verbesserte Deeskalation und Vorsorge setzen aber institutionelle Reformprozesse voraus, die starren Veränderungswiderständen entgegenwirken.
Ausgerechnet der im Gesamtwerk meistzitierte und renommierte Forscher Tilman Steinert sticht hier durch eine konservative Betrachtungsweise hervor, indem er mit defizitorientierter Argumentation darauf abhebt, dass die Verringerung "klassischer" Zwangsmaßnahmen im System Psychiatrie (gerichtliche Unterbringungen, Fixierung und Isolierung, Zwangsmedikation) in der Gesamtschau kaum gelinge, sondern sich die Form der Gewaltanwendung lediglich immer nur verlagere, z.B. von der Zwangsmedikation zur Isolierung. Hier wünschte sich die Leserin einen mehr um kreative Methoden und Offenheit bemühten Forscher, dessen Blickrichtung über das System der stationären Psychiatrie hinausreicht.
Als Fazit lässt sich in der Gesamtbetrachtung resümieren: Das Buch bietet einen fundierten und überaus facettenreichen Einstieg in ein politisch hochaktuelles Fachgebiet. Und es lädt zu einer Fortschreibung ein, die sowohl in die Breite geht, indem es z.B. historische oder politikwissenschaftliche Perspektiven ergänzt als auch in die Tiefe führt, z.B. durch die Ausleuchtung von institutioneller Gewalt in Heimen.
Bettina Jahnke in Psychosoziale Umschau
Letzte Aktualisierung: 26.04.2024