Zunächst lässt der Buchtitel an einen populären Ratgeber denken, zumal Eckart von Hirschhausen auf der Umschlagrückseite das Buch empfiehlt. Nach der Vorstellung ihrer Person weiß man immerhin, dass hier die Chefärztin eines Berliner psychiatrischen Krankenhauses berichtet, die auch Präsidentin der Fachgesellschaft DGPPN gewesen ist. Schon im Vorwort wird dann deutlich, dass es um mehr als um Ängste und Depression geht – nämlich eher darum, den psychiatrischen Alltag aus verschiedenen Perspektiven zu beschreiben. Vielleicht hätte der Buchtitel eher »Keine Angst vor der Psychiatrie« lauten sollen.
Zum Einstieg wird festgestellt, dass sich trotz aller Antistigmakampagnen seit 30 Jahren nichts geändert hat an der negativen Einstellung gegenüber psychisch kranken Menschen und dass die vertrauensvolle Beziehungsarbeit noch immer der wichtigste Baustein für Früherkennung und Therapie ist. Im Kapitel »Depressionen« wird auch für den Laien sehr anschaulich erklärt, was eine Depression ist, wie sie entstehen kann und welche Behandlungsmöglichkeiten es gibt.
Empfehlungen dazu, wie diagnostiziert und mit den Angehörigen umgegangen werden sollte, könnten sogar das Behandlungsspektrum des einen oder anderen Facharztes noch erweitern. Schließlich wird geschlechtsspezifischen Unterschieden inklusive postpartaler Depression und depressiven Zuständen in verschiedenen Lebensabschnitten viel Raum gegeben, mit der gesundheitspolitisch relevanten Feststellung, dass Menschen in Heimen psychiatrisch absolut unterversorgt sind.
Die Behandlung der Depression widmet sich mit zehn Seiten der Wirkweise von Antidepressiva und EKT, ohne dass näher auf Absetzsymptome bzw. die momentane Diskussion über Abhängigkeit eingegangen wird, ebenso wenig wie auf die Möglichkeit, dass Patienten nicht auf EKT ansprechen. Erfreulicherweise weist die Autorin jedoch darauf hin, dass die Medikamente nicht unbedingt lebenslang verabreicht werden müssen. Aber womöglich behandelt sie auch lieber mit Psychotherapie, die sie offensichtlich den Antidepressiva vorzieht. Die psychodynamischen Verfahren werden ausführlich geschildert – auf Kosten der Verhaltenstherapie, die auf gerade mal zwei Seiten abgehandelt wird, als das am häufigsten angewandte Verfahren im niedergelassenen Bereich.
Im Anschluss werden erst krank machende Faktoren wie Isolation und Reizüberflutung, dann Präventionsmöglichkeiten mit Beispielen der Gegensteuerung in unserem täglichen Leben identifiziert. Die neuen Medien, gesteigerte Leistungsansprüche an uns selbst und zwanghafte Ernährungsgewohnheiten erzeugen zusätzlichen Stress, wo doch ein Ausgleich zum Arbeitsdruck nötig wäre. Der »Hype um den Burn-out« (»keine psychische Erkrankung«!) wird ebenso angesprochen wie die notwendige betriebliche Prävention, leider ohne konkrete Umsetzungsvorschläge. Jedoch kann jeder selbst etwas für sich tun, und wenn alles nicht mehr hilft, gibt es vor der stationären Therapie ja noch die tagesklinische Behandlung, deren Vorteile und Abläufe ausführlich erklärt werden – oft nicht bekannt in der Bevölkerung.
Im Kapitel »Angststörungen« werden sehr anschaulich mit aktuellen Beispielen Unterschiede zwischen den verschiedenen Angst- und Panikstörungen erklärt, einschließlich möglicher Ursachen und Therapien. Erst auf den folgenden Seiten erschließt sich, warum plötzlich das Thema »psychisch krank gleich Täter« anschließt und wir über »Germanwings-Flug 9525« und »psychische Erkrankungen in den Medien« zu »Amok und Terror« kommen. Hier wird sehr sachlich und anschaulich über unsere eigenen Ängste referiert und dargestellt, wie diese in den Medien durch unbewiesene Behauptungen und Halbwahrheiten geschürt werden. In welchem Spannungsfeld wir in der Psychiatrie mit Patienten aus fremden Kulturen arbeiten und auf was wir uns einlassen müssten, wird detailliert und aus eigener Erfahrung geschildert.
Fast das ganze letzte Drittel des Buches nimmt uns die Klinikchefin – nach einem kurzen geschichtlichen Abriss inklusive Psychiatriereform – mit in den Alltag des Klinikpsychiaters. Akute psychische Krisen, Freiheitsentziehung und forensische Begutachtung werden angerissen, ein Abschnitt über das Betreuungswesen fehlt leider. Interessant zu lesen sind die eigenen Erlebnisse und Entwicklungen der Autorin, die das psychiatrische Arbeiten auch für interessierte Laien etwas transparenter machen.
Das letzte Kapitel bespricht Aspekte der Gesundheitspolitik, klärt über die Hintergründe des Versorgungssystems auf (Wartezeiten, Arztvergütung) und entlässt den Leser mit dem Ausblick auf Selbstwirksamkeit und dem Hinweis auf die Möglichkeit, »Spiritualität als Ressource« zu erleben. Somit ist dieses Buch für einen kurzweiligen Einblick in die gesamte Psychiatrie jedem Interessierten zu empfehlen, für Fachleute gibt es in einzelnen Kapiteln die Möglichkeit, nochmal über Beziehungsarbeit nachzudenken.
Wassili Hinüber in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 26.04.2024