Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
Dachverband Gemeindepsychiatrie
Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen
Psychiatrie Verlag

Depressionen nah am Verbraucher abgehandelt

Depressionen sind ein komplexes Feld. In den letzten Jahren hat es sich eingebürgert, sie vor allem medizinisch abzuhandeln. Wie aber schaut eine Verbraucherorganisation auf diese heute weit verbreitete Krankheit?

Die Stiftung Warentest, normalerweise mit dem Test von Waren befasst und in Deutschland sehr anerkannt, hat diesen Blick Ende 2023 mithilfe von zwei Fachfrauen, einer Fachärztin für Psychiatrie und einer Psychologischen Psychotherapeutin, sowie ergänzt durch die Expertise eines Fachanwalts für Arbeitsrecht gewagt. Herausgekommen ist ein überraschendes und stark an praktischen Erwägungen orientiertes Buch.

Medikamente stehen dabei erfreulicherweise keineswegs im Mittelpunkt – im Widerspruch zu dem gelben Button auf dem Cover des Buches. Stattdessen wird, am Laien orientiert, der vielleicht erstmals mit Depressionen in Kontakt kommt, zunächst sehr nachvollziehbar dargelegt, woran man Depressionen erkennt (Kap. 1). Das sehr lebensnah, z.B. Daseinsphasen ansprechend, in denen das Risiko steigt. Und es wird gut nachvollziehbar, wie sich eine Depression anfühlt. Kapitel 2 geht dann einen Schritt weiter und will helfen, die Depression zu verstehen. Erfreulicherweise kommen hier verschiedene Erklärungsmodelle zur Sprache: die kognitive Triade nach Beck mit dem typisch depressiven Denken; das Konzept der erlernten Hilflosigkeit nach Seligman; aber auch Bindungstheorien und die Themen Vernachlässigung, Misshandlung und Traumata. Auch auf die Frage nach dem Zusammenhang von modernem Leben, Stress und Depression wird kurz eingegangen. Erst dann werden biologische Theorien abgehandelt wie das angebliche »Ungleichgewicht im Gehirn«, das andere Bücher zur Depression beherrscht. Hier hingegen eine durchaus kritische Abhandlung, die freilich noch etwas pointierter hätte ausfallen können. Und am Ende des Abschnitts der angesichts einer bei der Diagnostik real hohen Fehlerquote berechtigt angemeldete Zweifel: »Hab ich doch keine Depression?«

In den nachfolgenden Kapiteln 3 bis 5 geht es dann um Hilfen. Beginnend mit dem wichtigen ersten Schritt hin zu einer Fachkraft über die diversen Hilfsangebote von Psychiatern und Psychotherapeutinnen. Wiederum sehr praxisnah wird z.B. die (oft schwierige) Suche eines Therapieplatzes dargestellt. Aber auch die Frage erörtert, wann man in eine Klinik gehen sollte. Der Abschnitt über Medikamente möchte spürbar Ängste nehmen, lässt dabei aber Nebenwirkungen der Antidepressiva weitgehend außen vor und das ganze hochproblematische Feld – in dem es auch nach Jahrzehnten der Anwendung keine Wende in den Behandlungserfolgen gibt und das von fehlerhaften Studienergebnissen geprägt ist – viel zu hoffnungsvoll erscheinen. Immerhin werden am Ende Absetzphänomene angesprochen.

Erfreulich, dass dann ausführlich die »Hilfe zur Selbsthilfe« (Kap. 4) zur Sprache kommt. Verschiedene Strategien wie die Strukturierung des Alltags, Ernährung und Bewegung sowie die bei depressiv erkrankten Menschen so wichtige Schlafhygiene werden hier hilfreich besprochen. Ebenso der Umgang mit negativen Gedanken und unangenehmen Gefühlen.

Das Thema Selbstfürsorge leitet dann über zu Kapitel 5 und dem positiven Wirken eines (starken) Netzwerkes. Denn ja, eine Depression ereignet sich nicht nur im Betroffenen, sondern betrifft auch immer das Umfeld: Partner, Angehörige und Freunde. »Sie müssen es nicht alleine schaffen!« ist auf S. 132 ein wunderbarer Appell an den Leser.

Das Buch zeigt Wege auf, wie man andere Menschen miteinbezieht, seine eigenen Bedürfnisse kommuniziert, aber auch Grenzen setzt. Und wie andererseits Angehörige sich nicht von dem depressiven Elend verschlingen lassen, sondern unterstützend, aber in gesundem Abstand agieren können. Schön, dass zwei Seiten auch der Frage gehören, wie man Kindern die Depression erklärt und man als ganze Familie durch so eine schwere Zeit hindurchnavigieren kann.

Höchst ungewöhnlich, aber durchaus hilfreich und eben am Verbraucher orientiert, endet das Buch der Stiftung Warentest dann mit einem ausführlichen Kapitel zu juristischen Fragen: Wie soll man am Arbeitsplatz mit seiner Depression umgehen? Sie ansprechen oder lieber nicht? Sich krankschreiben lassen oder im Rahmen der gegebenen Struktur weiterarbeiten? Welche Rechte hat man als Erkrankter, wann ist eine Kündigung möglich? Wie läuft eine Wiedereingliederung oder soll man lieber früher in Rente gehen? Alles wichtige Fragen, zu denen man teils Antworten, teils Anstöße zur weiteren Auseinandersetzung erhält.

Was dem Buch am Ende eindeutig fehlt, ist eine Zusammenschau der angesprochenen Themenfelder. Der Rezensent entdeckt ein hochdifferenziertes Buch, das erfreulicherweise am eigenen bzw. psychosozialen Umgang mit der depressiven Erkrankung ausgerichtet ist statt an einem reduktionistischen medizinischen Modell. Für den Einstieg in das Thema Depression gut geeignet und mit einem schönen Überblick, wo man Hilfen findet. Wer es als Neuling liest, wird dann vermutlich enttäuscht sein, wie viel enger und eindimensionaler sich die angebotenen Hilfen im real life erweisen.

Jürgen Karres in Soziale Psychiatrie

Letzte Aktualisierung: 26.04.2024