Allen Frances Abrechnung mit dem Diagnostischen und Statistischen Manual psychischer Störungen (DSM) erschien in Deutschland kurz vor dem DSM-5. Besser könnte das Timing nicht sein. Alle wichtigen Zeitungen und Zeitschriften haben die Übersetzung rezensiert, in der Regel positiv. Im April schloss sich eine Lesereise mit gut besuchten Veranstaltungen an. Die Leute kamen und hörten ihm zu, denn Frances weiß, wovon er spricht.
Er war in der Arbeitsgruppe des DSM-III und saß der Kommission vor, die das DSM-IV geschaffen hat. Schon in dieser Zeit ist die Zahl der Diagnosen massiv gestiegen, was offenbar auf seinem Gewissen lastet. Von der Typisierung der neu aufgenommenen Krankheitsbilder Autismus, ADHS und Bipolaren Störungen in das DSM-IV haben vor allem die Pharmafirmen profitiert, wie Frances rückblickend feststellt, weil es ihnen gelungen ist, ihre Medikamente als Behandlungsstandards zu implementieren.
Die nun im DSM-5 erfolgte Aufnahme leichter, bisher nicht als behandlungsbedürftig angesehener Vorstufen kognitiver und affektiver Störungen lässt Frances fürchten, dass hier nur neue Märkte für weitere Psychopharmaka erschlossen werden, denn am erfolgreichsten kann man ja die behandeln, die gar nicht krank sind.
Neben den in Kauf genommenen, nicht unbeträchtlichen Nebenwirkungen allzu leichtfertig verschriebener Medikamente gibt Frances auch die ökonomischen Folgen zu bedenken. Wenn immer mehr Kranke Anspruch auf Behandlung anmelden, sind die Krankenkassen schnell leer. Nur eine strenge Diagnostik kann sicherstellen, dass diejenigen Hilfe bekommen, die sie am dringendsten brauchen.
Für diese schwer kranken Menschen will Frances die Psychiatrie "retten". Rhetorik und Anspruch sind beeindruckend, manche Wiederholung auch ermüdend, aber wer will seiner Analyse der "Inflation der Diagnosen" widersprechen? Frances beklagt die Aufweichung der Grenzen zwischen normal und krank. Lebenskrisen und Altersentwicklungen sind nicht pathologisch und nicht behandlungsbedürftig.
Das ist nicht neu, aber wurde noch nie von einem Psychiater formuliert, der lange Zeit selbst an den Diagnosenstandards mitgewirkt hat. Und es hat auch noch keiner versucht, die Pharmafirmen mit den eigenen Mitteln zu schlagen, mit einer großen Werbekampagne an die Endverbraucher (in den USA ist das den Pharmafirmen erlaubt).
Hoffnung, dass die Kollegen ihn hören, hat Frances wohl nur bedingt. Das Buch ist im Sachbuchprogramm eines Literaturverlags erschienen. Eine literarische Übersetzerin hat sich des Textes angenommen, was ihn sehr lesbar macht, aber zu einigen Fehlern geführt hat (z.B. ist die Rede von Verbraucherorganisationen statt von Selbsthilfeverbänden, von rechts- und linkshändigen Medikamenten statt von rechts- und linksdrehenden Molekülen in den Medikamenten).
Stattdessen setzt Frances auf den "klugen Konsumenten", die Verbraucherorganisationen (bzw. die Selbsthilfe), die Berufsverbände und die Presse. Letztere hat immerhin reagiert. Man muss Frances Eifer nicht mögen, der informierte Konsument muss ihn auch nicht lesen. Wer aber das erste Mal mit psychiatrischen Diagnosen konfrontiert ist, den wird diese Streitschrift vielleicht ermutigen, ein paar Nachfragen zu stellen und sich selbst und andere bei einer Krise nicht gleich als psychisch krank zu beschreiben.
Karin Koch in Psychosoziale Umschau
Letzte Aktualisierung: 14.08.2024