Achim Haug ist emeritierter Professor für Psychiatrie und hat bereits ein Sachbuch zum Thema psychische Erkrankungen geschrieben. In »Das kleine Buch von der Seele« gibt er den Lesern einen Überblick über psychische Erkrankungen, das psychiatrische Versorgungssystem und verschiedene Therapierichtungen. In seinem jüngeren Buch »Reisen in die Welt des Wahns« fokussiert er auf das psychiatrische Phänomen des Wahns.
In vier Fallgeschichten stellt Haug zwei Patientinnen und zwei Patienten aus seiner klinischen Arbeit vor: Tamara Grünfeld glaubt, dass unzählige winzige Menschen in ihr leben und ihre Organe aufessen. Sie nimmt wahr, wie diese Menschen ihre Gespräche mithören, ihr Hinweise im Gesprächsverlauf mit einem realen Menschen geben oder mit ihr schimpfen, wenn sie nicht mit dem einverstanden sind, was sie sagt. Ein anderer Patient hat die Vorstellung, dass es drei Welten gibt, in denen er der König sei und die er mittels des sich verändernden Luftdrucks bereisen könne. Dies habe er bei einer Ägyptenreise im Tal der Könige beim Betrachten der Schriftzeichen erkannt. Eine weitere bemerkenswerte Geschichte ist die der jungen Mutter Sabine Leonhardt, die am Capgras-Syndrom leidet. Sie ist der festen Überzeugung, dass sowohl ihr neugeborenes Kind als auch ihr Mann von dunklen Mächten ausgetauscht wurden. Ihr Mann erscheint ihr wie ein fremder Mensch, diene dieser fremden Macht, indem er sie überwacht.
Die Fallbeschreibungen sind passagenweise in einem erzählerischen, fast belletristischen Stil verfasst, in die Haug immer wieder ausführliche fachliche Informationen zur Thematik »Wahn« einflicht. In diesen Abschnitten erfahren die Leser etwas über Wahrnehmung und über die mitunter schwierige Abgrenzung zwischen irrationalem Denken und pathologischem Wahn. Hierzu stellt Haug auch kleine spannende Experimente vor, die die Leser sofort ausprobieren können.
Erfreulicherweise beschränkt sich Achim Haug nicht auf die Beschreibungen des jeweiligen Wahns seiner Patienten, sondern geht detailliert auf deren Biografie ein, forscht nach Ursachen und Brüchen in ihren Leben und versucht ein umfassendes Bild des Menschen über seine Krankheit hinaus zu er- und vermitteln. Dabei bleibt er behutsam-neugierig und tastet sich langsam im Gespräch mit den Patienten vor.
Eine weitere Ebene, die sich die Leser in den »Reisen in die Welt des Wahns« erschließen können, sind die medizinhistorischen Schilderungen. Sie reichen vom Schicksal Nietzsches, nachdem er aufgrund einer Syphilis wahnhaft wird, über die Analyse des Wahns von Daniel Schreber durch Sigmund Freud bis zu Philippe Pinel und Mason Cox mit ihren pragmatischen Ansätzen bei der Behandlung des Wahns.
Achim Haug beschreibt nicht nur, sondern bezieht in seinen Betrachtungen zu einzelnen Entwicklungen in der Psychiatrie kritisch Stellung. So warnt er vor einer Überbewertung von bildgebenden Verfahren bei der Erforschung von psychopathologischen Phänomenen und begrüßt die zunehmende interdisziplinäre Forschung, in der sich neben klinischen Wissenschaftlern auch Philosophen und Soziologen in gemeinsamen Arbeitsgruppen zusammenfinden. Bei der Behandlung des Wahns setzt Haug vor allem auf die Psychopharmakotherapie, häufig geht es in den wiedergegebenen Dialogen mit den Patienten um die Frage der Medikamenteneinnahme.
Aufhorchen lässt der Hinweis des Autors an eine Patientin, dass es wichtig sei, die Medikamente ein halbes Jahr weiterzunehmen. Das klingt zumindest kühner als die häufig vernommenen Insulin-Analogien und Mitteilungen zur Notwendigkeit einer lebenslangen Einnahme der Neuroleptika. Haug gibt erfreulicherweise den nichtmedikamentösen Therapieverfahren Raum und beschreibt mit dem »Individualisierten Metakognitiven Therapieprogramm« den aktuellen wissenschaftlichen Stand, der hoffnungsvolle Alternativen zur Psychoedukation bietet.
Die Beantwortung der Frage, für welche Leserschaft ein Sachbuch mit einem solch spezifischen Thema geeignet ist, gestaltet sich häufig schwierig. Interessierte Leser ohne beruflichen Background, die ein sensationsheischendes Werk über den Wahn erwarten, begeben sich auf die falsche Fährte. Der Autor nähert sich dem Thema behutsam, immer darauf bedacht, bei der Schilderung seiner Patienten, diese nicht vorzuführen.
Beim Lesen schnell zu erfassende Abschnitte wechseln sich ab mit Passagen, die eine konzentrierte Auseinandersetzung mit dem Text erfordern. Mitarbeitende aus dem psychosozialen Bereich, die sich noch nicht intensiv mit dem Titelthema befasst haben, erfahren viel Neues. Sie sollten auch einen Blick auf die Anmerkungen auf den hinteren Seiten werfen. Selten bietet ein Sachbuch so aufschlussreiche und weiterführende Endnoten an.
Ilja Ruhl in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 26.04.2024