Die vier Herausgeber haben sich von über dreißig Mitarbeitern und fast zwanzig Mitarbeiterinnen unter die Arme greifen lassen. So entstand ein Fachwerk, im doppelten Sinne, das sich nicht zu Unrecht Handbuch nennen darf, zumal weder ein Thema (eines doch, dazu später) und schon erst recht nicht ein Gelehrter beteiligungstechnisch auf diesem Gebiet vergessen wurde. Damit wäre eigentlich für eine Rezension alles gesagt, zumal endlich der Bedarf für ein aussagekräftiges Nachschlagewerk zur antisozialen Persönlichkeitsstörung gedeckt wurde – diese Lücke ist jetzt hochpotent gefüllt.
Zunächst darf wohl von dem biologischen Wunder der führenden Mitwirkung Otto Kernbergs die Rede sein, der mit seinen 88 Jahren ein Viertel der Herausgeberschaft geschultert haben müsste. Es ist bekannt, dass die Hütung eines Sacks mit Flöhen ein Kinderspiel ist gegenüber der Betreuung und Forderungen von und an hochangesehene(n) Autoren, die stets auch damit beschäftigt sind, an andere Standardwerke Hand anzulegen bzw. zu diesem Thema brisante gutachterliche Äußerungen von sich zu geben, sodass angesichts zu erwartender 400 Verhandlungstage (bis heute: 382) im Zschäpe- Prozess zumindest auf Herrn Professor Saß ahnungsvoll als Autor verzichtet wurde. Immerhin hat er bisher 4 % seines irdischen Daseins jener Angelegenheit gewidmet.
Apropos Gutachten: Ein Drittel der Autoren ist direkt in der Forensik tätig und hätte sich ein Kapitel gönnen sollen, in dem es darum hätte gehen müssen, wie man zu verfahren hat, wenn der Proband die gutachterliche Untersuchung verweigert, da sitzt jetzt Sass bei Zschäpe und andere forensische Großmogule saßen einstmals bei Mollath (auf dessen erhebliche rechtswidrige Taten augenscheinlich weiterhin gewartet werden muss) auf dem Trockenen. Sollte man in solchen Fällen nicht auf die missliche Gutachterrolle ganz verzichten, außer in völlig klaren Fällen, die auch ohne Untersuchung eine sichere Aussage zulassen?
In diversen Hauptverhandlungen werden sich die Verfasser dieses Buches durch endlose Verfahren quälen müssen, um dann, ganz am Ende, gewissermaßen zur Belohnung, die psychiatrische Klimax ersteigen zu dürfen, mit der Beantwortung der Frage, ist der Täter dies oder das oder aber ein antisozial Persönlichkeitsgestörter. Wer an diesem Buch mitgewirkt hat und das bei Gericht durchblicken lässt, man kann es bei Gutachtenerstattung auch lässig bei sich liegen haben, wird bei jedem Landgericht, außer gegbenenfalls in Bayern, ein leichtes Spiel haben.
Das Werk hat 47 Kapitel, schon daraus ergibt sich, dass kein denkbares Thema (bis auf eines, siehe oben) vergessen wurde. Von der Geschichte und Epidemiologie geht es über die Grundlagen und forensische Beurteilung zur Klassifikation und Diagnostik sowie zur Symptomatologie und schließlich zum überraschend umfangreichen Teil der Therapie, was wohl ein fö(o)rderndes Signal sein könnte für die therapeutischen Nihilisten dieser Störung. Beachtlich ist auch zur Freude des Rezensenten, dass es ein Kapitel gibt zum Thema »Führungskräfte und Antisozialität«, ohne dass allerdings, was spielend möglich wäre, Ross und Reiter z. B. in der Autoindustrie oder im deutschen Bankwesen genannt würden.
Also: Wer jemals was zu sagen haben möchte bei Gericht, wird gut beraten sein, sich auf dieses Handbuch zu beziehen, aber auch der/die behandlungswillige Arzt oder Psychologin wird so manches finden, was hilfreich und weiterführend ist angesichts der doch wohl insgesamt bedenklichen Großwetterlage im antisozialen Bereich, zu dem ja auch noch die fanatisierten religiösen Terroristen gehören dürften.
Gunther Kruse in Sozialpsychiatrische Informationen
Letzte Aktualisierung: 26.04.2024