Bereits der Titel des Buches macht klar: Psychosen als ausschließlich chaotisches, befremdliches oder gar selbstschädigendes Erleben und Verhalten wahrzunehmen, wird Menschen in seelischen Krisen nicht gerecht. Hier berichten zwanzig Autorinnen und Autoren über ihre veränderten Wahrnehmungen, über Phasen tiefer Verzweiflung, über ihr Überfordertsein, aber auch vom Suchen, Verstehen und Sich-wiederfinden.
Herausgerissen aus dem Normalverlauf eines bürgerlichen Lebens, hat sie ihre Suche zu einem neuen Verhältnis gegenüber ihrer Psychose geführt. Nicht immer verbunden mit der Auflösung seelischer Turbulenzen und traumatischer Kindheitserfahrungen – aber die zwanzig Beispiele zeigen, dass ein neues, selbstbewusstes Leben und eine neue Identität trotz der Achterbahn von Gefühlen möglich sind.
Eine Psychose kann reich machen an Kontakten, Erfahrungen und neuen Möglichkeiten, selbst wenn man materiell verarmt, wie Martin Stoffel schreibt. Psychose beinhaltet die Gefahr des Selbstverlustes oder die Chance der Selbstfindung, so formuliert zum Beispiel Anna P. die hilfreiche Auseinandersetzung mit ihrer Psychoseerfahrung.
In allen Beiträgen eröffnet sich nach und nach eine in ihrem Reichtum, ihrer Individualität, ihrer inneren Differenzierung und Spiritualität neue Welt. Lohnt es sich das Buch zu lesen? Uneingeschränkt ja. Hier wird kein Voyeurismus über besondere Lebensläufe bedient. Die Autorinnen und Autoren helfen uns, einen Zugang, ein Verständnis für ihre häufig dramatischen Lebens- und Krisenbewältigungen zu finden. Freunde, Angehörige, Behandler und von Krisen Betroffene sollten das Buch nutzen, um zu verstehen, was aus der Außensicht oft als unverständlich, entrückt, selbstschädigend wahrgenommen wird.
Und dass es danach stets ein "Weiter" gibt, dass eine Psychose auch Start- und nicht Endpunkt sein kann. Bitter fällt auf, dass viele der Autorinnen und Autoren die klinische Standardbehandlung als nicht hilfreich, manche sie sogar als schädlich empfunden, ja geradezu erlitten haben. Dass sie, konfrontiert mit einem rigiden neurobiologischen Behandlungsmodell, mit rationalen Erklärungen und missachteten Wünschen herzlich wenig mit dieser Art von "Therapie" anfangen können. Dass sie hingegen Geduld, Akzeptanz und Offenheit für spirituelle Fragen als Hilfen außerhalb des Heilmittelkatalogs sowie eine Psychotherapie, die den Namen verdient, als ungemein hilfreich empfanden.
Wundern soll uns dies nicht, denn weder in einem klassischen Krankheitsmodell noch im Heilmittelkatalog ist der "Sinn" einer Erkrankung vorgesehen. Insofern ist dieses Buch wirklich etwas Neues. Hier sprechen Menschen über ihre veränderten psychischen Zustände radikal anders, als es die klassische Krankheitslehre vorsieht. Bereits dies macht es höchst wertvoll und fachpolitisch bedeutsam. Dahinter steht jedoch viel mehr als "nur" eine biografische Aufarbeitung von zwanzig Schicksalen.
Das Buch ist Dokument eines neuen Selbstbewusstseins und der Fähigkeit, über etwas zu sprechen und zu schreiben, was noch vor 20 bis 40 Jahren zu einer dauerhaften Psychiatrisierung in Langzeitbereichen geführt hätte. Es ist ein Dokument des sich selbst und andere Verstehens, weit über die biografische Selbstreflexion hinaus. Die Botschaft der Texte hat die Qualität eines Lehrbuches für Psychiatrie.
Es ist jedem jungen Psychiater, jeder Psychologin und jedem Sozialarbeiter in die Hand zu drücken. Damit diese, damit wir verstehen, wie viel mehr Sinnsuche, Anstrengung und Leistung hinter dem Verhalten derjenigen steckt, die unter Psychose "leiden", ja immer noch leiden, aber auch von ihr gelernt haben und mit ihr nunmehr leben können. Und das ist ungeheuer viel. Hiervon können wir alle lernen.
Dem Herausgeber Hartwig Hansen – als Psychologe zugleich Paar- und Familientherapeut und Supervisor – ist die Thematik aus seiner profunden Kenntnis der Psychiatrie bestens vertraut. Ihm gebührt Anerkennung dafür, nicht nur die zwanzig Texte zusammengetragen, sondern auch die Bedeutung und Leistung dieser kritischen Lebensläufe für uns erkannt und in einem hilfreichrn Nachwort eingeordnet zu haben.
Christian Zechert in Dr. med. Mabuse
Letzte Aktualisierung: 26.04.2024