Am meisten Spaß macht es, sich bei der Lektüre dieses inhalts-und seitenstarken Buches von Michael Schödlbauer aus der neuen Reihe "Anthropologische Psychiatrie" des Psychiatrie Verlages, herausgegeben von Thomas Bock, über Wahnhaftigkeit in Wissenschaft, Religion, Politik und Kultur treiben zu lassen, z.B. uns über Menschen mit Wahn-Verrückung (erneut) schlauzumachen, etwa über die historisch belegten Prominenten Strindberg, Schreber oder Hölderlin.
Meine gezielt ausgesuchte Teil-Lektüre wird erweitert durch viele kluge Abhandlungen. Außerdem verspricht das hier vorliegende beeindruckende Wahnkompendium alles, was das (unwissende) Herz begehrt. Eben, wie es im Untertitel heißt, "Zugänge zur Paranoia." Das zutiefst Menschliche des Phänomens kommt an die Oberfläche, und die therapeutischen Möglichkeiten werden ausgelotet.
Um das Faszinosum der Wahnerkrankung herauszustellen, seien hier einzelne Kapitel- und Abschnittsüberschriften des Buches beispielhaft genannt: "Wahn und Zufall", "Wahnverwandtschaften", "Wahn und Sinn", "Wahn und Sinnlichkeit", "Logik des Wahns", "Glaube, Liebe ... Wahn", "Wahn und Religion" (u.a. "Ist der Wahn eine Form des Glaubens?"), "Wahn: der infrage gestellte Mensch".
Dr. Michael Schödlbauer, Geschäftsführer, Dozent und Supervisor am Adolf-Ernst-Meyer-Institut für Psychotherapie in Hamburg und Diplom-Psychologe am UKE, ist der Verfasser dieser empfehlenswerten Lektüre, dem außerdem für die sensible und schöne Sprache zu danken ist, in der er komplexe Sachverhalte bespricht, ohne protzig zu sein. Er ist vorsichtig, ohne zu werten.
Das 368 Seiten umfassende Buch kann als ein Standardwerk gelten, das Bereiche der Wissenschaft, der Kunst, der Politik und der Religion umfassend abbildet. Ich vermute, dass es den Anspruch auf Vollständigkeit zum Wahn-Thema erheben kann, es aber erfreulicherweise gar nicht nötig hat, das zu behaupten. Auf jeden Fall hat Schödlbauer endlich das Psychopathologische für Psychiatrie-Erfahrene sprachlich und gedanklich angemessen dargestellt und erträglich gemacht. Gerne lese ich da Sätze wie diesen, hier aus dem Kapitel über die "Verrückung des Menschen", dass "die wahnhafte Entgleisung im Wesen des Menschen angelegt [sei], ja mehr noch, sie gehört paradoxerweise zu den realitätskonstituierenden Akten".
Doch neben den interessanten Fallbeispielen, die aus zwei Jahrhunderten stammen und den aufregenden Themen und Thesen rund um den Wahn, sind die vielen klugen Fachköpfe, die für das Buch gelesen und benutzt wurden, beeindruckend: Sigmund Freud, Caspar Kulenkampff, Moritz und Daniel Paul Schreber, Susanne Regener, Hans Prinzhorn, Rudolf Otto, Friedrich Nietzsche, Georg Christoph Lichtenberg, Jaques Lacan, Ernst Klee, Immanuel Kant, Franz Kafka, Martin Heidegger, H. Fujimori, René Descartes, Jaques Derrida, Karl Abraham. Sie finden sich im 28 Seiten starken Literaturverzeichnis.
Ich kann das Buch nicht nur Fachleuten empfehlen, sondern auch Angehörigen und Psychiatrie-Erfahrenen, es sei denn, Letztere ziehen es vor, einem professionellen Fachmann nicht die Hand reichen zu wollen. "Wahnbegegnungen" ist ein Buch zum Schmökern, Nachschlagen und Weiterlesen, es frischt unser Halbwissen (wieder) auf und bietet uns darüber hinaus ein sinnlicheres Vergnügen als zum Beispiel die mühseligen Recherchen im Internet zum Gegenstand. Und um das Thema Wahn abzurunden, der Aphoristiker und Literat Karl Kraus, bereits 142 Jahre alt, wusste es schon lange: "Nervenpathologie: Wenn einem nichts fehlt, so heilt man ihn am besten von diesem Zustand, indem man ihm sagt, welche Krankheit er hat.
Brigitte Siebrasse in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 26.04.2024