Ein steigender Anteil der Kinder und Jugendlichen in stationären Einrichtungen hat traumatische Lebensereignisse erfahren. Parallel wächst der Bedarf an qualifizierten Maßnahmen. Psychosoziale Fachkräfte müssen die traumatischen Erfahrungen der Kinder und Jugendlichen professionell beantworten können – nicht nur im Rahmen der Therapieangebote, sondern auch im Alltag.
Silke Birgitta Gahleitners Buch "Das Therapeutische Milieu in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen" stellt sich dieser Thematik. Die Autorin greift dafür klassische wie aktuelle Überlegungen und Forschungsergebnisse zu einer Konzeption auf, die pädagogisches und therapeutisches Arbeiten verbindet und der Annahme verpflichtet ist, dass alle Faktoren in der Lebensumwelt des Kindes Wirkung entfalten.
Pädagogen und Pädagoginnen leisten dabei, so die Autorin, den weitaus größten Teil der Traumaversorgung. Sie müssen vor Ort "traumasensibel verstehen und handeln", und das viele Stunden am Tag. Dass die Arbeit mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen dennoch als interdisziplinäre Aufgabe zu verstehen ist, zieht sich wie ein roter Faden durch das anschauliche Buch.
Der Aufruf zum Zusammendenken der interdisziplinären Wissensbestände und das abgestimmte Handeln sind ausführlich und überzeugend begründet, ebenso die Hinweise zur Wirkung des Betreuungsalltags auf Kinder und Jugendliche. Im Zentrum der Überlegungen steht die Wirksamkeit menschlicher Begegnungen. Die Grundhaltung von Respekt ist dabei von besonderer Bedeutung.
Zu den differenzierten Ausführungen gehören Themen wie Bindungs- und Beziehungsarbeit, Nachsozialisation, Halt gebende Struktur sowie Regulierung von Nähe und Distanz als Alternativerfahrungen zu vorangegangenen Verletzungen. Zum viel benutzten "sicheren Ort" ist der Begriff "schützende Inselerfahrung" eine erfrischende Alternative.
Alle Interventionen entfalten sich im Alltag. Interventionen erfolgen nicht zufällig, sondern konzeptionell und situativ gestützt, geplant, bedacht, so die Autorin. Der Gedanke, dass jede Intervention begründbar sein muss, gerade in der konkreten Arbeit im Alltag, ist herausfordernd, aber auch anregend. Gegenüber einem intuitiven Umgang mit Traumatisierten stellt die Autorin die Bedeutung und Notwendigkeit von Problem- und Fachkompetenz bei den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen heraus.
Wissensbestände von Traumadefinitionen, Symptomklassifikationen und professionelle Beziehungsgestaltung sind dabei ebenso bedeutsam wie eine kontinuierliche reflexive Auseinandersetzung mit sich selbst. Reflexives Wissen hilft, so die Autorin, Belastungen aushalten zu können, jedoch nur dann, wenn die Institution diese Herangehensweise auch strukturell stützt. Die Beschreibung konkreter Schritte, bezogen auf trauma- und beziehungssensible Diagnostik und Intervention, liefert interessante konzeptionelle Anregungen für die konkrete Ausgestaltung des stationären Lebensalltags.
Dass sich daran biografisches Arbeiten nahtlos anschließt und seine Wirkung entfalten kann, indem Kinder wieder einen Zugang zum eigenen Gewordensein bekommen, überzeugt. Neben anschaulicher Beschreibung etlicher diagnostischer Methoden wie der Biografiediagnostik bzw. -analyse und der Umweltdiagnostik wird auch die Nutzung psychosozialer Diagnostik zur Interventionsplanung differenziert dargestellt.
Für einen Blick in die detallierteren Inhalte ist der Untertitel "Trauma- und Beziehungsarbeit in stationären Einrichtungen" bedeutsam, da er klarstellt, dass es wirklich um den stationären Kontext mit seinem spezifischen Anspruch an das dort tätige Personal geht. Zu kritisieren wäre eventuell, dass der Obertitel die Aufmerksamkeit dennoch unwillkürlich auf therapeutisches Geschehen lenkt. Elemente, die dem therapeutischen Milieu zugeordnet werden, gehören jedoch konzeptionell auch in den pädagogischen Regelbereich. Erneut könnte sonst dem Pädagogischen zu wenig wirksame Bedeutung beigemessen werden.
Auch wenn nach den Worten der Autorin das "Therapeutische Milieu" ausdrücklich nicht eine Therapeutisierung des Alltags meint, sondern eine explizite Betonung auf pädagogisch verwurzelte Betreuungskonzeptionen, bleibt in der Außenwirkung diese Gefahr bestehen. Der Transfer von der Theorie in die Praxis ist der Autorin jedoch sehr gut gelungen. In unserer Einrichtung zum Beispiel haben wir das Zusammenwirken von Pädagogik und Therapie als "tragendes Netz zwischen Pädagogik und Therapie" bezeichnet und sind dabei, es konzeptionell weiterzuentwickeln.
Die Ausführungen der Autorin, wie bedeutsam sich darin nicht nur dyadische Beziehungen, sondern eine unterstützende Beziehungsvielfalt erweist, korrespondieren dazu hilfreich. Einen sehr wichtigen Gedanken führt die Autorin mit dem Begriff „konstruktives Krisenmanagement“ ein, womit sie meint, dass Krisen in der Praxis immer mitgedacht werden müssen. Interessante Praxisbespiele von Jugendlichen, deren Meinungen und Reflexionen über ihre Zeit in stationären Jugendhilfeeinrichtungen mitgeteilt werden, sind ein Gewinn – nicht nur zum Verständnis, sondern auch als Perspektivenerweiterung.
Ebenso spannend ist es, die Überlegungen der Pädagogen und Pädagoginnen selbst zu ihrem Arbeitsfeld zu lesen. Die in den grauen Feldern hervorgehobenen Vertiefungsexkurse bieten gute und wichtige Erklärungen zu ausgewählten verwendeten Begriffen oder Themen. Das Buch eignet sich daher für Fachkräfte mit verschieden großem Theoriehunger. Ob man die Vertiefungsexkurse liest, bleibt einem selbst überlassen. Entsteht daraus das Interesse, weiterzulesen, weisen zahlreiche Literaturverweise einem den Weg in die Tiefe.
Das Buch eignet sich daher neben dem Haupteinsatzort Praxis auch für Studierende, Forschende und Lehrende. Abschließend ist zu sagen, dass es der Autorin gelungen ist, wichtige, insbesondere auch neue Gesichtspunkte aufzuzeigen, die für die weitere Diskussion und Konzeptionierung der noch jungen Disziplin der Traumapädagogik äußerst wertvoll sind.
Maria Krautkrämer-Oberhoff in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 26.04.2024