Ingo Engelmann, Psychologe, Psychotherapeut und Musiktherapeut, war viele Jahre lang Redaktionsmitglied dieser Zeitschrift. Die Werkstattschrift »Schneckenhäuser« ist Kult und natürlich im »Berliner Archiv für Sozialpsychiatrie« platziert.
Marianne Bosshard war Professorin für Sozialpsychiatrie an der Fachhochschule Köln und Mitautorin des Lehrbuches »Soziale Arbeit in der Psychiatrie«. Wir sind uns bei Lesungen persönlich begegnet; mit allen Ausgaben dieses Lehrbuchs und Berichten über Exkursionen im Studiengang Sozialarbeit hat sie gerade unser Archiv bereichert.
Zweifellos bin ich als Rezensentin befangen. Trotzdem möchte ich beide Bücher vorstellen; sie werben für die Freuden eines neugierigen, kreativen Ruhestands – nach der Sozialpsychiatrie. Beide Bücher sind mit wunderbaren Fotos illustriert, denn beide Autoren sind leidenschaftliche Fotografen.
Ingo Engelmann hat die Holmer Müllerstochter natürlich nicht kennengelernt. Dreh- und Angelpunkt eines Projektes im Rahmen der jährlichen Kunstausstellung in dieser Mühle und des vorliegenden Buches ist ein Foto von ihr, vermutlich aus dem Jahr 1924. Was weiß er von ihr? Was verbindet den Psychotherapeuten Ingo Engelmann mit der Müllerstochter Erna Oehlke? Er macht Suchbewegungen, er knüpft Fäden. Er recherchiert die Geschichte der Mühlen der gemeinsamen Heimat in der Nähe von Buchholz; er durchsucht die Weltgeschichte nach möglichen gemeinsamen Relikten. Er sucht in seiner Kindheit und findet vieles, was ihn mit der Müllerin verbindet. Er fotografiert die Mühle, die Umgebung und greift auf sein therapeutisches Instrumentarium zurück: Mithilfe der Gegenübertragung lernt er sie kennen.
Auch wer – wie ich – wenig Bezug zu dieser norddeutschen Region hat, wird angesprochen und bereichert. Allein die Geschichte der Mühlen und das Leben der häufig als Hexen verdächtigten Müllerinnen fasziniert. Allmählich gerät man in den Sog dieser beiden Leben und der kunstvollen Spiegelung. Ingo Engelmann, das wissen wir längst, ist ein vorzüglicher Autor. Ihn zu lesen, ist ein Vergnügen. In der »Holmer Müllerstochter« ergänzt er Heimat-, Sozial- und Weltgeschichte mit anspruchsvollen historischen und psychoanalytischen Exkursen zum Thema Bewusstsein, Heimat und Fremde. Wer bin ich, wer war sie, und was erleben wir gemeinsam? Was macht uns zu dem, was wir sind? »Ich hatte nicht geplant, diese Ausstellungsvorbereitung zu einer Anwendung der Psychoanalyse als Kulturwissenschaft zu machen, aber ich kam nicht darum herum.« (S. 81)
Wer zuckt nicht zusammen bei Marianne Bosshards Titel oder lacht verlegen? Und in der Tat handelt das schön gestaltete Buch »Die Sexualität der Bäume und die Liebe zu und unter ihnen« von den unzähligen Varianten, mit denen sich Bäume vermehren.
Alles fing an mit einem Ahornbaum vor ihrem Haus, der im Januar plötzlich übersät war mit roten Puscheln. Sie recherchierte. Sie las und untersuchte zunächst die Fortpflanzungseigenheiten der heimischen Bäume, reiste schließlich mit ihrer Kamera sogar in ferne Länder. Marianne Bosshard scheint in ihrem Ruhestand noch ein Botanik-Studium angehängt zu haben. 16 Bäumen ist jeweils ein ausführliches Kapitel mit akkuraten Quellenangaben gewidmet. Standorte, Geschichte, Verbreitung und Gestalt werden anschaulich beschrieben. In welchen Mythen spielt dieser Baum eine Rolle, wo findet er sich in der Kunst? Ausgesprochen unterhaltsam schildert sie die Sexualität, also die männlichen und weiblichen Organe der Bäume, und ihre ganz spezielle Art, sich zu finden, zu vereinigen und zu vermehren. Vieles ist banal, anderes bizarr. Vor allem die Eschen haben es ihr angetan: »Mehr geht nicht! Einhäusig, zweihäusig, dreihäusig, wirrhäusig, polygam.« Eingefügt sind ihre schönen Fotografien, manchmal in witziger Kombination. »So hing Gott Odin neun Tage im Baum, den Kopf nach unten, um klug zu werden und die Runenschrift zu lernen.« Illustriert ist dieses Zitat mit dem Foto eines Baumpflegers, der in seinem Geschirr in einer Esche hängt. (S. 251) Ob er klüger geworden ist?
Dies ist ein Lesebuch. Man schaut nach dem Lieblingsbaum, nach der Birke auf dem Spielplatz oder der Linde, die tatsächlich in meinem Hinterhof wächst. Ich garantiere Ihnen: Auch Sie entdecken ungeahnte Details und Assoziationen, vielleicht zum Baum Ihrer Kindheit, und folgen so den Anregungen von Ingo Engelmann, im Eigenen das Fremde und im Fremden das Eigene zu finden.
Ilse Eichenbrenner in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 26.04.2024