Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
Dachverband Gemeindepsychiatrie
Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen
Psychiatrie Verlag

Ein Fall für sich

Der Titel dieses Lehrbuchs deutet bereits darauf hin: Die beiden Fachbereiche Psychiatrie und Suchthilfe, in der Versorgungspraxis bisher konzeptionell strikt voneinander getrennt, scheinen sich anzunähern, zumindest in der Lehre. Auch so gesehen: ein Lernbuch. Und bei der weiteren Lektüre erklärt das Herausgeber:innenteam, dass es ein wichtiger Erkenntnisprozess gewesen sei, jeweiliges Wissen aus den Bereichen Soziale Arbeit, Psychologie und Medizin miteinander zu verknüpfen, lebenswelt- und teilhabeorientiert. Die Herausgeber:innen sind bundesweit an verschiedenen Hochschulen tätig, wie hier in Kurzform vorgestellt: Prof. Dr. phil. Jeannette Bischkopf, Diplom-Psychologin lehrt an der Fachhoch-schule Kiel in den Fächern Psychologie und Gruppendynamik, Prof. Dr. phil. Daniel Deimel, Sozialarbeiter, M.Sc., Suchttherapeut, Supervisor, lehrt an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen, Abt. Aachen, Klinische Sozialarbeit, Prof. Dr. phil. Christoph Walther, Diplom-Sozialpädagoge, lehrt an der Technischen Hochschule Nürnberg Soziale Arbeit mit den Schwerpunkten Sozialpsychiatrie und Beratung, Prof. Dr. med. Ralf-Bruno Zimmermannist Facharzt für Psychiatrie sowie Sachverständiger der Berliner und Brandenburger Sozialgerichtsbarkeit und war bis 2023 Professor für Sozialpsychiatrische und Sozialmedizinische Grundlagen an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin (vgl. Bischkopf et al., 2023, S. 2).

Weitere 23 Autoren und Autorinnen bringen – alleine, zu zweit oder zu dritt – ihre fachliche Expertise mit ein, um 17 Lernfälle zu präsentieren.

Anmerkung zur Neuauflage

Ein Blick hinter die Kulissen der Entstehung dieses Fallbuchs eröffnet, wie seitens des Psychiatrie Verlags die Aktualisierung von sozialpsychiatrischen Lehr- und Lernstoffen verfolgt wird: Anders als bei der vorherigen Auflage von 2017 »Soziale Arbeit in der Psychiatrie – Lehrbuch«, in der die sogenannten »Lernfälle« noch explizit integriert worden waren, ist dieses Fallbuch eine Ergänzung zu den beiden Lehrbüchern »Soziale Arbeit in der Psychiatrie« (2023) und »Soziale Arbeit in der Suchthilfe« (2023). Für die vollständige Überarbeitung der vorliegenden Neuauflage(n) gab es ver-schiedene Gründe zur Aktualisierung, u.a. steht die Umstellung der Diagnosemanuale von ICD-10 zur ICD-11 an. Daher liegt es nahe, die Aufmerksamkeit der professionell Tätigen in diese Richtung zu lenken. Aktuell wird in Deutschland noch die ICD-10 genutzt, sinnvoll ist es jedoch, die teilweise neuen Kategorien und Zuordnungskriterien psychischer Erkrankungen und Störungsbilder der ICD-11 miteinzubeziehen, wie im Lernfall »Computerspielabhängigkeit« bereits angewendet (s.u.) (vgl. Kapi-tel 7; in ebd., S. 96-110).

Aufbau und Struktur

Eine weitere Überlegung gilt dem Aufbau und der Struktur des Buchs. Sowohl die beiden Lehrbücher als auch das Fallbuch sind bausteinartig aufgebaut, d.h., dass die Module sowohl im Einzelnen für sich gelesen und bearbeitet als auch miteinander kombiniert werden können. Neben der Erklärung zum Umgang mit dem Fallbuch sind insbesondere die Abbildungen des Fallbuchs zu erwähnen, die als Downloadmaterial abgerufen werden können, zur Nutzung in Lehre und Praxis. Das Inhaltsverzeichnis ist unter folgendem Link verfügbar: https://d-nb.info/1255394196/04

Aus dem Inhalt

In ihrem Einführungskapitel »Psychosoziale Einzelfallhilfe in Psychiatrie und Suchthilfe« stellen Daniel Deimel und Christoph Walther die Einzelfallhilfe als Handlungskonzept der Sozialen Arbeit vor, historisch kurz skizziert. Es folgen die Grundlagen zur Einordnung psychischer Verhaltensstörungen, die sich nach der Internationalen Klassifi-zierung psychischer Störungen (ICD-10) und der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) sowie dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) richten. Bei der Begleitung und Unterstützung der Klienten und Klientinnen beziehen sich die beiden Autoren auf das Modell von Haye und Kleve (2002), um den Unterstützungsprozess der psychosozialen Einzelfallhilfe in sieben Schritten zu konkretisieren: Kontrakt/Vertrag, Beziehungsaufbau und -gestaltung (oder umgekehrt), Anamnese und psychosoziale Diagnostik, Hypothesenbildung und Priorisierung der Problemlage, Intervention und Aktivierung vorhandener Ressourcen, Evaluation, Abschluss, ggf. Vermittlung, wenn die Einzelfallhilfe anderweitig fortgesetzt werden soll (vgl. ebd., S. 14). Immer mit der Vorgabe, die betroffene Person mit ihrer individuellen Geschichte und Problemlage auch im sozialen Kontext zu sehen. Nach dieser allgemeingültigen Perspektive sozialprofessionellen Handelns zum Einstieg in die Materie folgen 17 Lernfälle, dank derer die Leserschaft das Erleben der betroffenen psychisch erkrankten Menschen besser verstehen kann, individuell erzählt, diagnostisch zugeordnet, sowie einzelfallbezogen mit entsprechendem Fachwissen er-gänzt. Gezeigt werden auch methodische Zugänge, die zwischenzeitlich zum Standard sozialprofessionellen Handelns gehören, sowie Interventionsmöglichkeiten und Methoden der Evaluation (Überprüfen des eigenen Handelns). Das Autorenteam geht auch auf eigene Berufserfahrungen ein und ermöglicht so sowohl kurz- als auch langjährig professionell Tätigen eine Erweiterung der Perspektiven (vgl. ebd., S. 20).

Zu den Lernfällen

Alle Betroffenen der ausgewählten 17 Fallbeispiele haben der Veröffentlichung ihrer Geschichte zugestimmt. Um ein Wiedererkennen zu vermeiden, wurden die Namen und Eckdaten geändert. Kennenzulernen sind: Ljudmila Michailowa (Lernfall »Demenz«), Hajo Werner (Lernfall »Alkoholabhängigkeit«), René Maier (Lernfall »Opioidabhängigkeit«), Julia Becker (Lernfall »Multipler Substanzkonsum«), Roberto Rossi (Lernfall »Pathologisches Spielen«), Marcel Hauser (Lernfall »Computerspielabhängigkeit«), Jan Schneider (Lernfall »Schizophrenie«), Carsten Epping (Lernfall »Schizophrenie bei Wohnungslosigkeit«), Julia Gärtner (Lernfall »Depressive Episode«), Melanie Franzen (Lernfall »Bipolare affektive Störung«), Jihan Hamid (Lernfall »Posttraumatische Belastungsstörung«), Gertrud Sander (Lernfall »Zwangsstörung«), Thomas Bauer (Lernfall »Soziale Phobie«), Johanna Wagner (Lernfall »Essstörung«), Sascha Klein (Lernfall »Emotional-instabile Persönlichkeitsstörung, Borderline-Typ«), Paul Claußen (Lernfall »Persönlichkeitsstörung« - Beispiel eines Betroffenen mit paranoider Persönlichkeitsstörung) und Anton Zeisig (Lernfall »Intelligenzstörung«).

Die gesammelten Lernfälle decken die breite Palette typischer Problemlagen der Patienten und Patientinnen und deren Diagnosespektren passgenau – und somit fast vollständig – ab, um die Praxis von Psychiatrie und Suchthilfe adäquat abzubilden.

Um exemplarisch einen Blick in dieses Fallbuch zu werfen, fällt die Wahl auf ein Kapitel aus der Suchthilfe: Der Lernfall »Computerspielabhängigkeit« (in der ICD-11 neu aufgenommen) von der Autorin Kristin Schneider, Sozialarbeiterin und -pädagogin und Systemische Therapeutin (vgl. ebd., S. 96-110). Dem didaktischen Aufbau der Lernfälle entsprechend, kommt zuerst der betroffene Marcel Hauser zu Wort, der über seine Sichtweise zum Verlauf und zur Zuspitzung seiner Problemlage berichtet: Er sei bald 30 Jahre alt, der jüngste Sohn (von drei Geschwistern) einer alleinerziehenden Mutter. Seinen Vater habe er nie kennengelernt. Die Familie sei oft umgezogen. Seine Schulprobleme hätten begonnen, als er 13 Jahre alt war, daraufhin habe er sich mehr und mehr zurückgezogen. Eine Lerntherapie habe nur bedingt geholfen. Wenn er nach draußen gegangen sei, habe er an Ängsten gelitten, er habe Stress gehabt, in der Schule in der vollen Klasse zu sitzen. Als 14-Jähriger habe er mit Videospielen am PC begonnen und eine neue virtuelle Welt kennengelernt. Seinen Realschulabschluss habe er in einem alternativen Schulprojekt gemacht, »weil es auf der Regelschule nicht geklappt« (ebd., S. 97) habe. Es sei nicht gelungen, seine Spielzeiten zu kontrollieren. Nach einem zunächst guten Beginn der Ausbildung als IT-Fachinformatiker habe er sich neuen Herausforderungen stellen müssen. Er berichtet, auf Wunsch seiner Mutter ausgezogen zu sein, alleine, in eine Einzimmerwohnung. Nach dem Kauf eines PC‘s mit Equipment habe er gespielt und gespielt, auch um den Stress des Alltags zu kompensieren. Er habe sich krankgemeldet, seine Post nicht mehr geöffnet, letztlich habe er den Ausbildungsplatz verloren und kein Geld mehr gehabt. Seine Mutter habe ihm wieder einmal geholfen, den Arbeitslosenantrag zu stellen. Die Fortsetzung seines Verhaltens, die Post nicht zu öffnen, habe erneut zum finanziellen Engpass geführt. So sei er inzwischen an dem Punkt angelangt, dem Drängen der Mutter nachzugeben und sich professionelle Hilfe zu holen mit dem Ziel, einen Weg aus der Spielspirale zu suchen und das Computerspielen aufzugeben (vgl. ebd., S. 96-97).

Und wie könnte es weitergehen?

Im Abschnitt Fachwissen ist nachzulesen, dass in diesem Fall die Beziehungsgestal-tung für ein Gelingen von zentraler Bedeutung ist: »Es geht hierbei nicht vorrangig darum, die Ursachen-Folge-Frage zu klären, sondern eine umfassende, begleitende Versorgung für die betroffenen Personen sicherzustellen« (Illy2020, S. 41; in: ebd., S. 105). In der weiteren fachlichen Expertise werden gut nachvollziehbar und differenziert der Beziehungsaufbau und die Beziehungsgestaltung zum Klienten beschrieben, die soziale Diagnostik und Teilhabe sowie das Fachwissen über Computerspiel und Internetabhängigkeit vermittelt, die Soziale Arbeit mit dem Klienten selbst und eine allgemeine Zusammenfassung über dieses Störungsbild. Für eilige Leser:innen gibt es auch »alles auf einen Blick«.

Zur Diskussion gestellt

Vor dem Hintergrund der jahrzehntelangen strikten Abgrenzung der beiden Fachbereiche Psychiatrie und Suchthilfe könnte diese Veröffentlichung als Meilenstein im Sinne einer längst fälligen und sinnvollen Annäherung der beiden Fachgebiete gedeutet werden. Auch im Rahmen der Versorgungspraxis war jahrzehntelang auf die Zuständigkeit der beiden Fachgebiete zu achten, eine formal künstliche Trennung, die den Erfahrungen in der Behandlungspraxis nicht entsprochen hat, denn Patienten und Patientinnen bringen auch Zustandsbilder von Komorbidität mit. Dies wird deutlich etwa bei Hajo Werner im Lernfall »Alkoholabhängigkeit«, den die Autoren Dario Deloie und Daniel Deimelvorstellen (vgl. ebd., Kapitel 3, S. 41-58) oder auch bei Sascha Klein, dem Lernfall über »Emotional-instabile Persönlichkeitsstörung, Borderline-Typ«, vorgestellt von Gernot Hahn(vgl. ebd., Kapitel 16, S. 221-240).

Des Weiteren stehen auch folgende Fragen im Raum: Wie gehen professionell Tätige bei der Begleitung psychisch erkrankter Menschen im Fachgebiet von Psychiatrie und Suchthilfe mit der sozialpsychiatrisch-geprägten Suchhaltung (vgl. Klaus Dörner und Ursula Plog u.v.a., Ende der 1970er Jahre) um und vereinbaren diese Offenheit mit maßgebenden Strukturen (vgl. Konzept des Fallbuchs)? Welchen Beitrag leisten Strukturen, um Erkenntnisse zu gewinnen? Kann sich eine meist engmaschige Strukturgebung auch gegenteilig auswirken und somit bei der Klärung im Einzelnen und der Wahrheitssuche stören? Dem Kreis der 23 Autoren und Autorinnen ist es aus meiner Sicht bestens gelungen, diese Aufgabe konstruktiv zu lösen: Bei jedem Lernfall ist die individuelle Seite der betroffenen Menschen gut zu erkennen, der Leserkreis wird fachlich eingestimmt und hinsichtlich diagnostischer Kategorisierungsmuster gezielt sensibilisiert. Dies wird z.B. in Kapitel 10 über depressive Episoden bei Julia Gärtner deutlich: Ihr Lernfall berücksichtigt im Kontext depressiver Störungsbilder auch Trauerreaktionen (zukunftsweisend auf die ICD-11). Jeder Lernfall für sich eröffnet neuen Lern- und Suchraum. Das Autorenteam schreckt zudem auch vor komplizierten Problemlagen nicht zurück, wie am Beispiel Lernfall »Persönlichkeitsstörung« (konkret ein Beispiel für paranoide Persönlichkeitsstörung in der Forensik) deutlich wird. Gülzade Düzgün-Suttner und Matthias Tentenbeschreiben ihren Klienten Paul Claußen ziemlich authentisch: Hier geht es um eine Person, die jede Hilfe von außen vorzugsweise ablehnt und die in den Akten als »nicht krankheitseinsichtig« beschrieben wird (vgl. ebd., Kapitel 17, S. 241-254).

Fazit

Diese praxisbezogene Veröffentlichung bietet Studierenden und dem interessierten Leserkreis die Möglichkeit, anhand von 17 Lernfällen mit jeweils spezifischem Fachwissen die beiden Fachgebiete »Psychiatrie« und »Suchthilfe« kennenzulernen oder das eigene Wissen zu vertiefen. Das Fallbuch ist aktuell und spannend zu lesen und sollte nicht nur in Hochschulbibliotheken verfügbar sein!

Edith Köhler in Soziale Psychiatrie

 

Letzte Aktualisierung: 26.04.2024