Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
Dachverband Gemeindepsychiatrie
Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen
Psychiatrie Verlag

Psychiatrie - Lehrbuch für Studium und Weiterbildung

Lehrbücher der Psychiatrie gibt es mittlerweile durchaus in ausreichender Zahl. Wer also den Markt mit einem weiteren beliefert, wird sich fragen lassen müssen, worin der besondere Zweck liegt.

Ein konservatives Lehrbuch eines konservativen Psychiaters

Gerd Huber, emeritierter Professor der Universität Bonn, kann diese Frage gelassen über sich ergehen lassen: Er gehört seit 1974 zu den Pionieren. Im Vorwort zur nunmehr 7. Auflage weist der Autor selbst darauf hin, dass der ursprünglich vor mehr als 30 Jahren für die in der Weißenau untergebrachten Ulmer Medizin-Studenten geschriebene "Lehrtext" in der vorliegenden Form als Anachronismus erscheinen könnte. Und in der Tat handelt es sich um ein konservatives Lehrbuch eines konservativen Psychiaters. Er dürfte zu dieser Klassifikation wohlwollend stehen.

Der Konservatismus liegt keineswegs nur in der Form, also etwa in der Tatsache, dass der mit den Jahren gewaltig angeschwollene Stoff des Fachgebiets nach wie vor (wenn auch unter Mitwirkung von Frau Prof. Gisela Gross, der langjährigen Mitarbeiterin des Autors) im Prinzip in einem Ein-Autoren-Buch präsentiert wird. Auch nicht nur darin, dass gewissermaßen das jeweils aktuell Gewesene zwar durch die jeweils neu hinzugetretenen Erkenntnisse ergänzt wurde, sodass der Buchumfang mit jeder weiteren Auflage an Seitenzahl hinzugewann, ohne aber die Notwendigkeit einer auch qualitativen Neuorientierung ins Kalkül zu ziehen: Wissenschaftlich Neues tritt im Buch vor allem als quantitative Mehrung auf, nicht als Notwendigkeit qualitativer Neuorientierung.

Dritte-Person-Standpunkt bevorzugt

Als konservativ zu bezeichnen ist das Buch vielmehr vor allem durch Zweierlei: Zum einen ist es insofern konservativ, als es nach wie vor den Dritte-Person-Standpunkt bevorzugt und sich darin grundlegend etwa von Dörners Lehrbuch unterscheidet. Zum anderen bekennt es sich auch dezidiert zum psychiatriepolitischen Konservativismus, indem es, zustimmend den BVDN als Interessenvertretung der niedergelassenen Nervenärzte zitierend, den Ausbau von Institutsambulanzen der psychiatrischen Kliniken und "planwirtschaftliche" – das heißt wohl: sozialismusverdächtige – Versorgungsmodelle ablehnt (S. 699), diese allerdings zum Ausdruck eines kapitalistischen Gesundheitsmarkts erklärt, auf dem mit Wellness-Programmen überwiegend um "gesunde" Patienten gekämpft werde.

Im Zuge der Psychiatrie-Reform sei eine Zweiklassen-Psychiatrie auf Kosten der großen Gruppe schwer psychiatrisch Erkrankter entstanden, eine Einschätzung, zu deren Bekräftigung Huber u. a. auf Schandas Untersuchungen zur Problematik der Versorgung von Patienten mit erhöhtem Gewaltrisiko verweist. In der Tat ist dem in gewisser Weise zuzustimmen: die Durchdringung – theoretisch-begrifflich wie auf der Versorgungsebene – mit marktförmigen Metaphern und Strukturen hat die Psychiatrie inzwischen grundlegend verändert. Und die Sozialpsychiatrie hat dem keineswegs klar widerstanden. Aber dies war und bleibt ein widerspruchsvoller Prozess.

Keinesfalls ist die Usurpierung von Patienten als "Kunden" und der psychiatrischen Tätigkeit als kapitalistisch in Wert gesetzte Dienstleistung, also als käufliche Ware, allein oder auch nur primär der sozialpsychiatrischen Bewegung zuzuschreiben. Wohl aber förderten die von ihr angestoßenen Reformen, dialektisch unterworfen, diesen Prozess der In-Wert-Setzung, und mit ihr, entgegen der expliziten Intention, den Ausschluss der Schwächsten. Der Fortschritt ist also janusköpfig. Hubers Lehrbuch greift das Problem auf, vereinseitigt es aber vom konservativen Standpunkt aus.

Zwiespältiger Eindruck

Das Buch sollte nichtsdestoweniger in keiner Bibliothek fehlen, schon wegen seines für ein Lehrbuch als enzyklopädisch zu bezeichnenden Fachwissens, das es zusammengetragen und von Auflage zu Auflage zur Mehrung des Umfangs beigesteuert hat, aber auch wegen seines historischen Ranges. War der Autor doch einer der ersten überhaupt, die sich mit der empirischen Erforschung residualer Zustände sowie des Basissymptomkonzepts bei schizophren erkrankten Menschen befassten.

Somit entsteht beim Rezensenten ein zwiespältiger Eindruck: Das Buch bietet einen umfassenden, erfahrungsreichen Überblick über drei Jahrzehnte psychiatrischer Forschung und Praxis; aber es verbleibt deren Widersprüchen gegenüber weitgehend blind. Am Leser ist es, sie wieder sichtbar zu machen, und dann wird ihm das Buch zu einem Gewinn.

Letzte Aktualisierung: 26.04.2024