Knapp und anschaulich wird das sich wandelnde Verständnis psychischer Erkrankungen und des Umgangs mit den von ihnen Betroffenen dargestellt. Für die aktualisierte Neuausgabe wurden Kapitel insbesondere zur neueren Psychiatriegeschichte und zu interkulturellen Aspekten ergänzt.
Geschichtliches Wissen über das sich verändernde Verständnis psychischer Erkrankungen von der Antike bis zur Gegenwart befördert das Selbstverständnis aller psychiatrisch Tätigen. Es bietet auch Psychiatrieerfahrenen und Angehörigen wichtige Orientierung. Der vorliegende Band ist eine Wissenschafts- und Sozialgeschichte des Fachs und eine Mentalitätsgeschichte, die die Wandlungen des Menschenbildes und der subjektiven Erfahrung von Wahnsinn in verschiedenen Epochen und Kulturräumen reflektiert. Dabei werden zentrale Versorgungsmodelle und Behandlungskonzepte genauso vorgestellt wie typische Patient*innenerfahrungen, die von Verwahrung, Behandlung und erst in jüngster Zeit von Teilhabe sprechen.
Prof. Dr. Burkhart Brückner, Diplom-Psychologe und Psychologischer Psychotherapeut, hat den Lehrstuhl für Sozialpsychologie, Psychosoziale Prävention und Gesundheitsförderung an der Hochschule Niederrhein, Arbeitsgebiete: Geschichte der Psychiatrie, klinische Sozialpsychologie, Beratungspsychologie und Psychotherapie.
»Philosophen, Theologen, Ärzte haben seit etwa 200 Jahren in großer Anstrengung immer wieder versucht, dem Geheimnis des Verrücktseins näher zu kommen. Und sie sind selbst bei dieser Suche nicht selten die verrücktesten Wege gegangen. Ich muss zugeben, die Geschichte unseres Faches hat mich schon immer fasziniert.
Ich saß bei Jean Starobinski im Seminar und schrieb einst bei Werner Leibbrand meine Doktorarbeit. Dörners "Bürger und Irre" und Foucaults "Wahnsinn und Gesellschaft" haben mich, neben anderem, zur Sozialpsychiatrie geführt. So war ich skeptisch, als ich Burkhart Brückners schmales, etwa 150 Seiten umfassendes, Buch zu diesem gewaltigen Thema in die Hand bekam.
Doch: die Lektüre hat mich in jeder Weise positiv überrascht. Dem Autor gelingt es auf erstaunliche Weise, 3000 Jahre des Umgangs mit Menschen, die an einer seelischen Störung leiden, komprimiert und verständlich zur Darstellung zu bringen. Er schreibt keine "Fortschrittsgeschichte", wie einst Ackerknecht, oder vor kurzem, allzu einäugig, Edward Shorter. Ihm gelingt es, die leitenden Ideen der psychiatrisch Tätigen wie die Sicht der Betroffenen und ihrer Angehörigen in den Blick zu nehmen.
Brückner kritisiert ideologische Vereinseitigungen, so manche Zwangsmaßnahmen, problematisiert beide jedoch in ihren jeweiligen historischen und soziologischen Zusammenhängen. Dem Wirken herausragender Persönlichkeiten in der Psychiatrie, wie Pinel, insbesondere Griesinger, Kraepelin, Freud und Jaspers, gibt er ausführlich Raum. Krankheitskonzepte werden philosophisch hinterfragt. Die oft verzweifelten Bemühungen um eine sachgerechte und dennoch menschliche Versorgung psychisch kranker Menschen gelangen vor ihrem gegebenen zeitlichen Hintergrund, in ihren gelungenen wie in ihren Irrwegen, zur Darstellung.
Ausführlich und behutsam, gerade auch in ihrem Entstehen, ist das dunkelste Kapitel der Psychiatriegeschichte, die Zeit der Krankenmorde während der NS-Zeit, behandelt. Über die Reformbewegungen der 70´er und 80´er Jahre gibt der Autor einen kundigen, wenngleich deutlich zu "hochschullastigen" Überblick. Hier könnten die sonst so ausgewogenen Darlegungen von Schott und Tölle Pate gestanden haben.
Ein gelungenes und dazu noch unterhaltsam-bildendes Buch. Jeder in der Psychiatrie Tätige sollte es kaufen und lesen.«
Ralph Seidel in Sozialpsychiatrische Informationen, (4/2010, S. 42f.)
Letzte Aktualisierung: 01.05.2024