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Psychiatrie Verlag

Der Arzt Hermann Strauß - Autobiografische Notizen und Aufzeichnungen aus dem Ghetto Theresienstadt

Das kleine, ansprechend aufgemachte Buch enthält autobiografische Notizen des Arztes und Hochschullehrers Hermann Strauß, seine Aufzeichnungen aus dem Getto Theresienstadt, die Dokumentation eines Vortrages, den er dort gehalten hat, sowie eine Einordnung der Geschehnisse im Getto und ein Nachwort durch den Mitherausgeber Harro Jenss. Den Anfang macht der in drei Schulheften für seine Enkelkinder niedergelegte Lebensbericht von Hermann Strauß.

Beginnend mit seiner Geburt in Heilbronn über seine Schulzeit als fleißiger und begabter Klassenprimus des humanistischen Gymnasiums und seine Studienzeit in Würzburg »hier herrschte bayerische Gemütlichkeit. Außerdem wirkte die Schönheit der Stadt, deren von Natur und Baukunst geschaffene Vorzüge man erst in späteren Jahren richtig einzuschätzen wusste … In eine Verbindung trat ich nicht ein, da mir damals die schon im Beginn befindliche Scheidung der Studentenschaft nach konfessionell orientierten Gruppen nicht zusagte ...«. Nach dem Physikum wechselte er nach Berlin. »Es reizte mich vor allem als Süddeutscher ... einmal eine Großstadt als solche und dann norddeutsches Wesen überhaupt genauer kennen zu lernen. Außerdem war die medizinische Fakultät auch in Bezug auf die klinischen Semester sehr gut besetzt.« Strauß schildert einprägsam einige seiner Lehrer, wie Rudolf Virchow – »ein Gigant der Wissenschaft « –, Robert Koch – »der Mann mit der hohen Stirn, dem Vollbart ... der in seinem Auftreten etwas Schüchternes hatte, hatte eine neue Welt erschlossen ...«.

Über Schwenninger, den Arzt Bismarcks, heißt es: »Er war ein betonter Outsider, hatte aber ein dämonisches Wesen. Sein therapeutisches Instrumentarium bestand vorwiegend in der ›Macht der Persönlichkeit‹. Seinem psychiatrischen Lehrer Friedrich Jolly merkte er an, ›dass man es mit einem warmherzigen Menschen zu tun hatte. Dies ist für einen Nervenarzt besonders wichtig. Sein Umgang mit dem psychisch Kranken war beispielgebend‹.« Seine Assistentenjahre verbrachte Strauß in Gießen und Berlin, wo er sich mit einer Arbeit über »Die Todesursachen der Diabetiker « habilitierte. Er entwickelte die nach ihm benannte »Straußkanüle« und fand hohe wissenschaftliche Anerkennung durch seine Arbeiten über Erkrankungen der Nieren und des Verdauungsapparates. Der Weg zu einer ordentlichen Professur war ihm als Juden verschlossen. 1910, im Alter von 42 Jahren wurde Strauß schließlich die Stelle des Chefarztes der inneren Abteilung des Berliner Jüdischen Krankenhauses übertragen. Nach 1933 übernahm er mit anderen Kollegen sonntägliche Fortbildungskurse für jüdische Ärzte, da diese vom allgemeinen ärztlichen Fortbildungswesen ausgeschlossen worden waren.

Betont nüchtern und sachlich beschreibt Strauß die Zeit nach der »Machtergreifung«: »Mit dem Umschwung ... erfolgte in meinem Ergehen und Erleben eine grundsätzliche Änderung und zwar meist nicht zum Guten … In dieser Zeit, in welcher durch die Zurückdrängung der jüdischen Ärzte aus der allgemeinen Praxis die materiellen Interessen zahlreicher arischer Ärzte erheblich gefördert wurden, zeigte sich, dass die Zahl der Spezies ›Medicus Politicus‹ doch erheblich größer war als man früher wusste und dass der Begriff der Kollegialität von nun ab an die Rasse gebunden war.« Die späten Dreißigerjahre brachten »einen weiteren Übelstand … als … gleichzeitig mit der Ausschaltung der Mehrzahl der jüdischen Ärzte aus der Praxis den Juden verboten wurde ein eigenes Auto zu halten ›wegen Unzuverlässigkeit‹. Dass wir seit Ende 1938 auf die Bezeichnung Arzt verzichten, uns ›jüdische Krankenbehandler‹ nennen ... mussten, war ja nur eine Äußerlichkeit. Erheblich schwerer wog dagegen der Umstand, dass den Juden ... der Besuch von Theatern, Konzerten, Kinos, Museen, den Zoo etc., sowie der Besuch der meisten Gaststätten verboten war.

Infolgedessen war die Gewinnung von Anregungen und geistiger Erfrischung im hohen Grade erschwert.« Eine durch den Chirurgen Paul Rosenstein vorbereitete Berufung nach New York lehnte Strauß ab. Rosensteins Nachfolger beschreibt eine Begegnung mit Strauß aus dieser Zeit mit folgenden Worten: »Als ich Professor Strauß mein Erstaunen und meine Bewunderung angesichts der ungewöhnlichen Arbeitsleistung in seinem Alter ausdrückte, sagte er voller Erregung: das letzte vergangene Jahr mit seinen unaufhörlichen Aufregungen erst hat mich zum alten Mann gemacht. Täglich Selbstmordversuche, durch Gas und Schlafmittel, behandeln zu müssen, oftmals vergeblich, ist auch für den Stärksten zu viel.« Am 29. Juli 1942 mussten sich Hermann Strauß und seine Ehefrau Elsa, eine Pionierin der Krankenhausfürsorge, im Sammellager der Großen Hamburger Straße in Berlin einfinden. Zwei Tage darauf wurden sie ins Getto Theresienstadt deportiert. Das Inventar der Wohnung am Kurfürstendamm war aufgelöst, das Vermögen eingezogen worden.

Geschichte, Strukturen und Leben des »Gettos « Theresienstadt hat uns H.G. Adler in seiner bis heute unübertroffenen Monografie – sowohl aus dem Blickwinkel des Zeugen wie des Wissenschaftlers, minutiös dokumentarisch dargelegt. Es ist bewegend, Hermann Strauß’ durch glückliche Umstände erhalten gebliebene Aufzeichnungen über seine Internierung in Theresienstadt vor diesem Hintergrund zu lesen. Strauß hält akribisch, jede Emotion spürbar meidend, fest, was um ihn herum geschieht. Er diagnostiziert die Mängel der Verwaltung, deutet das Empfinden der Lagerinsassen »der Unterschied zwischen der gewohnten Lebenslage und der hier notwendigen Lebensform war zu groß, als dass nicht alle in eine recht gedrückte Stimmung gerieten« und macht konkrete Vorschläge zur Verbesserung der hygienischen Bedingungen und medizinischen Behandlung im Lager.

Die Massenunterbringung mit ihren Folgen sowie insbesondere die zahlreichen Deportationen nach Polen, deren tödliches Ziel man kannte, seien eine besondere Belastung gewesen: »So kam es, dass das Nervensystem der an sich schon hart betroffenen Menschen, die außerdem an der Wohnungsmisere und den Ernährungsschwierigkeiten litten, bei vielen derartig erschüttert wurde, dass sich bei vielen eine das Zusammenleben oft sehr störende Reizbarkeit und Unverträglichkeit entwickelte … überhaupt war das Leben für die Bevölkerung auch sonst nach manchen Richtungen hin zusätzlich unbequem durch gewisse Formalismen, welche durch die ganze Organisation bedingt waren. Denn diese bestand in einer Art Zivilmilitarismus. Wohnung hieß Ubiquition, Versammlung Appell, besonderes Kennzeichen der Person bestand in ihrer Transportnummer.« Strauß gehörte bald nach seiner Ankunft dem Ältestenrat der sogenannten jüdischen Selbstverwaltung an. Ihr oblag, die Angelegenheiten der Lagerinsassen untereinander zu regeln. Alle wesentliche Entscheidungsbefugnis lag dagegen in den Händen der SS.

Mit der Stellung im Ältestenrat gingen für ihn und seine Frau gewisse Vorzüge, was Unterkunft und Verpflegung anbelangte, einher. Sie zog jedoch erhebliche seelische Belastungen nach sich, vor allem, wenn er immer wieder nur für einzelne Häftlinge Erleichterungen oder gar die Rückstellung vom Weitertransport erwirken konnte. Über die seelischen Auswirkungen des Häftlingsdaseins stellt er resignierend fest: »Die Not entfernt die Hüllen. Dies hat sich auch außerhalb von Theresienstadt während der beiden großen Kriege gezeigt. Jedenfalls hat in Theresienstadt nur eine geringe Minderzahl die Solidität ihres Charakters voll bewahrt. Neid, Missgunst, kleine Betrügereien, ›Schleusen‹ d. h. stehlen von z. B. Nahrungsmitteln, Kleiderstücken etc. galten bei Vielen nicht als Schande … auf der anderen Seite« traf man »auf willige Anpassung an ein unüberwindbares Schicksal und betonte Hoffnungsfreudigkeit. Vielfach auch rührende Züge von Hilfsbereitschaft und menschenfreundliche Gesinnung«.

An der »Freizeitgestaltung« der Zwangsgemeinschaft Theresienstadt war Strauß engagiert beteiligt . Die musikalischen Darbietungen, Schauspielaufführungen und imposanten Vorträge aus den verschiedensten Wissensgebieten, zu denen er selbst so gut er konnte beitrug, bewegten sich auf hohem Niveau. Herausragende jüdische Künstler und Wissenschaftler waren im Lager interniert. Die meisten von ihnen sollten in Auschwitz ermordet werden. Hermann Strauß selbst starb am 17. Oktober 1944 an den Folgen eines Herzinfarktes. Seine Frau konnte noch die Befreiung erleben, starb jedoch, bevor sie nach Berlin zurückkehren konnte, noch in Theresienstadt. Strauß’ Sohn Walter, ein renommierter Jurist, konnte in der NS-Zeit seinen Beruf nicht mehr ausüben und musste am Ende des Krieges Zwangsarbeit leisten. Er hatte die Aufzeichnungen seines Vaters aufbewahrt. Nach der Befreiung war er u. a. Mitglied des Parlamentarischen Rates und Staatssekretär im Bundesjustizministerium. Dessen Tochter, die Künstlerin Irene Hallmann-Strauß hat dem Buch ein empfindsames Vorwort vorangestellt, indem sie mahnend die Achtung vor dem Leben und Respekt vor der Religion aller Menschen einfordert.

Harro Jenss, ehemaliger Chef einer internistischen Klinik, hat ihm schließlich ein differenziertes Nachwort aus dem doppelten Blick des fachkundigen Gastroenterologen und des historisch gebildeten Kenners der Lebensgeschichten verfolgter Ärzte beigefügt. Die oft sonderbar distanziert wirkende Sprache der Aufzeichnungen von Hermann Strauß macht einem die Lektüre des Buches nicht immer leicht. Doch nach und nach erweist sich diese Art des nüchternen Berichtgebens als »der Sache angemessen«. In ihr, durch sie konnte sich der Autor, wie mir scheint, selbst treu bleiben. Und diese Haltung, dieses »Sich-treu-Bleiben« durchzieht das ganze Buch.

Manche allzu sehr auf Korrektheit der Abläufe, auf Ordentlichkeit zielende Schilderung, manche Täuschung über die damalige Lage, mancher Zweckoptimismus mag aus der heutigen Perspektive befremdlich erscheinen. Strauß war die Möglichkeit versperrt, Abstand zu nehmen zu dem, was geschah. Dazu fehlten ihm die Zeit – und vor allem: die Freiheit. So blieb ihm eines – zu helfen, wo immer er helfen konnte. Ein bewegendes »document humain«. Man sollte es lesen.

Ralf Seidel in Sozialpsychiatrische Informationen

Letzte Aktualisierung: 14.08.2018