Die Aufarbeitung der Geschichte der Psychiatrie in der ehemaligen DDR geht nur langsam voran. Mit dem Buch »Psychiatrie in der DDR« haben Ekkehard Kumbier und Holger Steinberg einen Herausgeberband veröffentlicht, der zeigt, wie viele Ansätze es zur historischen Klärung gibt.
Beispiel Rodewischer Thesen: Diese waren in den 1960er-Jahren, also vor der Psychiatrieenquete in Westdeutschland, ein wichtiger Anstoß, um die Psychiatrie in der DDR zu öffnen und ambulante Strukturen aufzubauen. In den 1970er-Jahren sind dann die Brandenburger Thesen zu der therapeutischen Gemeinschaft in den Diskurs eingebracht worden, um das therapeutische Milieu in den psychiatrischen Kliniken und den Umgang mit psychisch erkrankten Menschen zu verbessern. Für Kumbier und Haack spiegeln die Brandenburger Thesen die »Verinselung des Gesellschaftlichen auf dem Gebiet der Psychiatrie wider« (S. 259).
Es sind jedoch nicht nur die Spiegelung der gesamtgesellschaftlichen Diskurse in den psychiatriespezifischen, die in der geschichtlichen Betrachtung ans Tageslicht gebracht werden. Rzesnitzek setzt sich mit den »Schocktherapien« und der Leukotomie in der DDR-Psychiatrie auseinander und räumt mit der Vorstellung auf, dass die DDR-Psychiatrie biologischer gewesen sei als die in der damaligen Bundesrepublik. Rzesnitzek resümiert letztendlich, dass das Therapierepertoire in der DDR sich von Klinik zu Klinik deutlich unterschieden habe. Die Unterschiede seien maßgeblich durch die individuelle Einstellung des Klinikdirektors bedingt gewesen. Statt eine Differenz zwischen Ost und West zu verstärken, gelingt es Rzesnitzek, eine Gemeinsamkeit herauszuarbeiten. Es gibt noch viele andere Themen, die erwähnenswert wären, so z.B. die Beiträge zur Suizidprävention und zur forensischen Psychiatrie. Volker Hess beschäftigt sich mit der »schwierigen Rekonstruktion einer pharmakologischen Revolution«.
Die Einführung der Psychopharmaka in den psychiatrischen Einrichtungen der 1950er- und 1960er-Jahren hat vor der Mauer keinen Halt gemacht. Mit mehr oder weniger Verzug hätten die wichtigsten Vertreter der neuen Wirkstoffklassen Einzug gehalten. Es sei allerdings immer wieder zu Versorgungsengpässen gekommen, da es ja unter anderem an Devisen gemangelt habe. Die DDR habe sich im Laufe der Jahre jedoch zu einem wichtigen Testfeld für die westeuropäische Pharmaindustrie etabliert. Bei der Lektüre der inhaltlich abwechslungsreichen und gründlich bearbeiteten Beiträge wird dem Leser klar, welche Entwicklungen in den Psychiatrien des Westens und des Ostens parallel verlaufen sind bzw. wie unterschiedlich das eine oder andere gelaufen ist.
Geht man in sich, so wird ein staatlicher Missbrauch eines totalen Systems wie der Psychiatrie nicht so offensichtlich, wie man es erwartet. Allerdings bleiben auch Leerstellen. Es stellt sich die Frage, ob eine eher subjektive Geschichtsschreibung über die Psychiatrie in der DDR bislang nicht existiert, oder Kumbier und Steinberg Aspekte der Oral History nicht abbilden. So tauchen Betroffene, Angehörige und psychiatrisch Tätige nur am Rande auf. Dabei hätten beispielsweise die Pflegenden in der Psychiatrie als größte Berufsgruppe sicher viel zu erzählen. Mitzscherlich und Müller arbeiten heraus: »Grundsätzlich zeigt sich (…) eine erhebliche Kluft zwischen den Wahrnehmungen der Professionellen und denen der Patienten. Während die Professionellen sich engagiert haben und über lange Zeit das Gefühl hatten, ›dass das, was wir machen, gut ist‹, erlebten die meisten Patienten Psychiatrie in der DDR als einerseits übergriffig, andererseits als unterversorgend und zu wenig auf ihre individuelle Erkrankung und Lebenssituation reagierend.« (S. 364 f.)
Mit dem Buch »Psychiatrie in der DDR« verdeutlichen Kumbier und Steinberg sowie die zahlreichen Autorinnen und Autoren, mit welch unterschiedlichen Brillen auf die Psychiatriegeschichte in der DDR geschaut werden kann. Es gibt hoffentlich Anstöße, die Vergangenheit nicht Vergangenheit sein zu lassen.
Christoph Müller in Psychosoziale Umschau
Letzte Aktualisierung: 01.05.2024