Im vorliegenden Buch schildern zweiundzwanzig Psychiatrie-Erfahrene und sieben Profis ihre Erfahrungen mit der DDR-Psychiatrie. Sie wurden im Rahmen eines von der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur geförderten Projekts interviewt.
Die Berichte ergeben ein reiches Kaleidoskop, aber kein einheitliches Bild. Die Beurteilung der Autoren ist sehr stark abhängig von der erlebten Situation in der jeweiligen Anstalt. Am besten war es wohl in der Leipziger Uniklinik des Professors Klaus Weise, der sowohl von Patienten als auch von Profis anerkennend genannt wird, mit Abstand am schlimmsten war die Situation in Waldheim. In Dösen, Rodewisch, Altscherbitz kam es wohl auch auf die jeweilige Station an, und darauf, wes Geistes Kind die Profis denn waren.
Die befragten Autoren stammen fast alle aus dem Großraum Leipzig bzw. haben ihre Psychiatrieerfahrungen überwiegend im Raum Leipzig gemacht. Vermittelt wird, dass es „in Leipzig“ besser war als andernorts. Die DDR-Psychiatriereform ist eng verbunden mit der dortigen Leipziger Uniklinik und Klaus Weise und auch mit Rodewisch, wo Weise gelernt hat. Übereinstimmend ergibt sich aus den Erfahrungsberichten, dass die Psychiatrie auch ein Ort für Systemabweichler war. Dies betrifft Psychiatrie-Erfahrene und auch Profis.
Letztere sahen – so sagen einige – die Psychiatrie als Nische oder Ort, wo man der totalen Staatskontrolle entkommen konnte. Für die abweichlerischen Psychiatrie-Erfahrenen war es ein Ort der Reglementierung, der Maßregelung, schlimmstenfalls ging es nach Waldheim, wo die Zustände skandalös elend und menschenunwürdig waren. Übereinstimmend berichten sowohl Psychiatrie-Erfahrene als auch Profis von hohen Medikamentengaben (Megadosen) und von in der Regel langen Aufenthalten. Keine Krankenkasse kontrollierte, und Kostendenken im westlichen Sinn gab es nicht. Deutlich wird aus den Erzählungen, dass in der DDR-(Nischen-) Psychiatrie vieles ging, was sonst nicht ging, dass dies aber vom Engagement Einzelner abhing.
Diese mussten wollen und machen und dabei erfinderisch sein (z.B. das Gewollte dem x-ten Parteitag widmen). Geschildert wird die DDR-Psychiatrie auch als Mikrokosmos, als sich weitgehend selbst versorgende Parallelwelt mit eigenen Strukturen und Regeln. Ob die Psychiatrie erträglich war, hing sehr von Individuen und den einzelnen Mitarbeitern ab. Oft wurden die Patienten vernachlässigt, herrschte übermäßiger Zwang oder Gewalt. In der DDR wurde die Elektrokrampftherapie (EKT) häufig praktiziert. Auch die Praxis der Insulinschocks hat es gegeben. Ansonsten gab es meist eine liberale Ausgangsreglung und bescheidene Freizeitangebote. Therapieangebote waren sehr unterschiedlich: von Malen, Singen, Gesprächen bis hin zu gar nichts und reiner Verwahrung.
Die räumlichen Bedingungen waren schlecht. Bettensäle von zwanzig Betten und mehr, meist Zimmer für sechs bis zehn Personen. Einzelzimmer gab es nur als Ausnahme. Die Sanitäranlagen waren schlecht und veraltet. Es gab noch "Badetage". Die Psychiatrie war auch ein Ort, wo sozial unliebsame Personen zum Verschwinden gebracht wurden, auch politisch Verdächtige und "Republikflüchtlinge" kamen schon mal dorthin. Insgesamt hatte ich beim Lesen den Eindruck: Die DDR- Psychiatrie war oft erbärmlich, aber auch ein Ort der relativen Staatsferne und somit auch ein kleines Stück Freiheit.
Viel hing von Einzelnen ab und von deren Engagement. Ganz wichtig ist, dass in der DDR selbst die Kranken noch in reguläre Arbeitsverhältnisse kamen bzw. als Rentner Zuverdienstbeschäftigungen hatten.
Fazit: Ein spannendes Zeitzeugen-Kaleidoskop, das einen interessanten Einblick in bisher meist unbekannte Einzelheiten des Psychiatrie-Alltags der DDR ermöglicht.
Heinz-Günter Maaßen in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 01.05.2024