Ein großartiges Buch, das alle lesen sollten, die in der Psychatrie in irgendwelcher Weise Verantwortung zu tragen haben, von der Gesundheitsministerin über die Administratoren und Kader einer psychiatrischen Institution beliebiger Größe bis zur hintersten Pflegerin und zum Praktikanten.
Warum? Weil das Buch in beispielhafter Weise eine Haltung und Praxis zum Ausdruck bringt, die heute, überrollt vom neurobiologischpsychopharmakologischen Denken und der allgegenwärtigen Rationalisierung, Digitalisierung und Computerisierung aller klinischen Abläufe vom Verschwinden bedroht scheint: Eine Haltung und Praxis nämlich, die in allererster Linie das Wohl der Patienten, ihrer Angehörigen und nicht zuletzt auch der psychiatrischen Profis selbst im Auge hat, anstatt sich primär um eine optimale Datenerhebung und Rendite zu kümmern.
Das Buch spiegelt sechzig Jahre erlebte Psychatriegeschichte bis hinein in die Gegenwart, vor allem aber die große Zeit des »Aufbruchs der Psychatrie« der Sechziger, Siebziger und Achtzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts, als Psychiater wie Klaus Dörner, Michael von Cranach, Asmus Finzen, inspiriert von der Psychiatriekritik der Achtundsechzigergeneration und den wegweisenden Impulsen der »Enquête zur Lage der Psychatrie in der Bundesrepublik« (1975) die Leitung großer traditioneller Landeskrankenhäuser übernamen mit dem Ziel, sie von Grund auf umzugestalten. Maria RaveSchwank, ärztliche Direktorin des Philippshospital in Riedstadt von 1979 bis 1990, der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Städtischen Klinikum Karlsruhe von 1990 bis 2000 und seither ehrenamtliche Migrantenbetreuerin und Vorkämpferin für die Erinnerung an die psychiatrischen Opfer des Nationalsozialismus war deutschlandweit die erste und lange auch einzige Frau, die sich an eine solche wahrhaft herkulische Aufgabe heranwagte.
Das Buch schildert, nach einigen biografischen Notizen, in einer dichten Folge von packend geschriebenen Kapiteln die vielfältigen Schwierigkeiten, die sich einer derartigen Aufgabe entgegenstellten, vom unglaublichen Beharrungsvermögen eingeschliffener administrativer Abläufe über die mühsame Lockerung der strikten Geschlechtertrennung bei Patientinnen, Patienten und Personal bis zum erbitterten Widerstand gewisser noch persönlich mitbetroffener Pflegerinnen und Pfleger gegen die Errichtung eines Mahnmals an die vielen zur Nazizeit auch aus dem Philippshospital deportierten und ermordeten Menschen.
Immer wieder zeigt sich dabei die Schlüsselrolle des Pflegepersonals sowohl im Guten wie im Schlechten. Eindrücklich wird im Kapitel »Strukturveränderungen« zum Beispiel beschrieben, wie es nur dank unendlich viel geduldigem Zuhörens, Beobachtens und Diskutierens, aber auch dank einer sorgfältigen Auswahl von motivierten neuen bei gleichzeitiger Aufwertung von gekränkten alten Mitarbeitenden möglich wurde, dass aus manchen hartnäckigen Bremsern engagierte Motoren der Reform mit Vorbildfunktion im Umgang mit den Kranken wurden. Wichtige Impulse kamen nicht selten auch von auswärtigen Besuchen und von schließlich als Privileg erlebten exteernen Weiterbildungskursen. Aber auch von Sternstunden ist in einem eigenen Kapitel die Rede – etwa als ein alter Chronischkranker zu seiner ungeheuren Überraschung von einer ferienabwesenden Psychologin eine persönliche Ansichtskarte zugeschickt bekam, oder als nach jahrelangem Kampf ein hauseigener Kleinbus angeschafft werden konnte, der es unter anderem ermöglichte, dass dauerhospitalisierte Patienten nach Jahrzehnten wieder einmal ihren Herkunftsort besuchen und Kontakt mit längst aus den Augen verlorenen Angehörigen aufnehmen konnten. Richtige Highlights sind in den Augen des Rezensenten auch unkonventionelle Ideen wie etwa diejenige, Schulklassen und Gruppen von Erwachsenen aus der Umgebung in die Klinik einzuladen, um das Misstrauen der Bevölkerung gegen die Kliniköffnung zu mindern. Keineswegs selbstverständlich ist ebenfalls das stete Bemühen der Klinikdirektorin, sich der Kritik der Mitarbeitenden zu stellen, um aus gemachten Fehlern zu lernen – so zum Beispiel, dass es weit besser ist, zunächst die Finanzierungsfrage abzuklären, bevor man von neuen Reformprojekten zu reden beginnt.
Alles in allem verdeutlicht das Buch auf eminent praxisrelevante Weise, was Sozialpsychiatrie selbst in einer Großklinik alten Stils sein kann und was sie überall seit jeher auch sein wollte: Eine Psychatrie, in welcher der ganze Mensch mitsamt seiner Vorgeschichte, seinen aktuellen Bedürfnissen und seinen verschütteten Entwicklungspotenzialen im Zentrum aller Bemühungen steht, denen alles andere – der Tagesablauf, das Behandlungsmilieu, der Umgang mit den Kranken, die Medikation und alle möglichen institutionellen und administrativen Zwänge – unterzuordnen ist. Eine solche Haltung nimmt in ihren Intentionen eine ganze Reihe von modernen Ansätzen vorweg, die heute unter Stichworten wie Resilienz, Empowerment, open dialogue und Soteria in der Sozialpsychiatrie Furore machen. Deshalb noch einmal: Dieses Buch sollte von allen irgendwie in der Psychatrie Verantwortlichen gelesen werden – und insbesondere gerade auch von solchen, die sich die Sozialpsychiatrie nicht unbedingt auf ihre Fahnen geschrieben haben.
Luc Ciompi in Psychosoziale Umschau
Letzte Aktualisierung: 01.05.2024