Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
Dachverband Gemeindepsychiatrie
Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen
Psychiatrie Verlag

Aufbruch in der Psychiatrie – Erinnerungen 1960 bis 2020

Ein großartiges Buch, das alle lesen sollten, die in der Psychatrie in irgendwelcher Weise Verantwortung zu tragen haben, von der Ge­sundheitsministerin über die Administra­toren und Kader einer psychiatrischen In­stitution beliebiger Größe bis zur hintersten Pflegerin und zum Praktikanten.

Warum? Weil das Buch in beispielhafter Weise eine Haltung und Praxis zum Aus­druck bringt, die heute, überrollt vom neu­robiologisch­psychopharmakologischen Denken und der allgegenwärtigen Rationa­lisierung, Digitalisierung und Computeri­sierung aller klinischen Abläufe vom Ver­schwinden bedroht scheint: Eine Haltung und Praxis nämlich, die in allererster Linie das Wohl der Patienten, ihrer Angehörigen und nicht zuletzt auch der psychiatrischen Profis selbst im Auge hat, anstatt sich pri­mär um eine optimale Datenerhebung und Rendite zu kümmern.

Das Buch spiegelt sechzig Jahre erlebte Psychatriegeschichte bis hinein in die Ge­genwart, vor allem aber die große Zeit des »Aufbruchs der Psychatrie« der Sechziger­, Siebziger­ und Achtzigerjahre des vergan­genen Jahrhunderts, als Psychiater wie Klaus Dörner, Michael von Cranach, Asmus Finzen, inspiriert von der Psychiatriekritik der Achtundsechzigergeneration und den wegweisenden Impulsen der »Enquête zur Lage der Psychatrie in der Bundesrepublik« (1975) die Leitung großer traditioneller Lan­deskrankenhäuser übernamen mit dem Ziel, sie von Grund auf umzugestalten. Maria Rave­Schwank, ärztliche Direktorin des Phi­lippshospital in Riedstadt von 1979 bis 1990, der Klinik für Psychiatrie und Psychothera­pie am Städtischen Klinikum Karlsruhe von 1990 bis 2000 und seither ehrenamtliche Migrantenbetreuerin und Vorkämpferin für die Erinnerung an die psychiatrischen Opfer des Nationalsozialismus war deutschland­weit die erste und lange auch einzige Frau, die sich an eine solche wahrhaft herkulische Aufgabe heranwagte.

Das Buch schildert, nach einigen biogra­fischen Notizen, in einer dichten Folge von packend geschriebenen Kapiteln die vielfäl­tigen Schwierigkeiten, die sich einer derarti­gen Aufgabe entgegenstellten, vom unglaub­lichen Beharrungsvermögen eingeschliffener administrativer Abläufe über die mühsame Lockerung der strikten Geschlechtertren­nung bei Patientinnen, Patienten und Perso­nal bis zum erbitterten Widerstand gewisser noch persönlich mitbetroffener Pflegerinnen und Pfleger gegen die Errichtung eines Mahnmals an die vielen zur Nazizeit auch aus dem Philippshospital deportierten und ermordeten Menschen.

Immer wieder zeigt sich dabei die Schlüs­selrolle des Pflegepersonals sowohl im Gu­ten wie im Schlechten. Eindrücklich wird im Kapitel »Strukturveränderungen« zum Beispiel beschrieben, wie es nur dank un­endlich viel geduldigem Zuhörens, Beob­achtens und Diskutierens, aber auch dank einer sorgfältigen Auswahl von motivierten neuen bei gleichzeitiger Aufwertung von gekränkten alten Mitarbeitenden möglich wurde, dass aus manchen hartnäckigen Bremsern engagierte Motoren der Reform mit Vorbildfunktion im Umgang mit den Kranken wurden. Wichtige Impulse ka­men nicht selten auch von auswärtigen Besuchen und von schließlich als Privileg erlebten exteernen Weiterbildungskursen. Aber auch von Sternstunden ist in einem eigenen Kapitel die Rede – etwa als ein al­ter Chronischkranker zu seiner ungeheuren Überraschung von einer ferienabwesenden Psychologin eine persönliche Ansichtskar­te zugeschickt bekam, oder als nach jahre­langem Kampf ein hauseigener Kleinbus angeschafft werden konnte, der es unter anderem ermöglichte, dass dauerhospita­lisierte Patienten nach Jahrzehnten wieder einmal ihren Herkunftsort besuchen und Kontakt mit längst aus den Augen verlo­renen Angehörigen aufnehmen konnten. Richtige Highlights sind in den Augen des Rezensenten auch unkonventionelle Ideen wie etwa diejenige, Schulklassen und Grup­pen von Erwachsenen aus der Umgebung in die Klinik einzuladen, um das Misstrauen der Bevölkerung gegen die Kliniköffnung zu mindern. Keineswegs selbstverständlich ist ebenfalls das stete Bemühen der Klinik­direktorin, sich der Kritik der Mitarbeiten­den zu stellen, um aus gemachten Fehlern zu lernen – so zum Beispiel, dass es weit besser ist, zunächst die Finanzierungsfrage abzuklären, bevor man von neuen Reform­projekten zu reden beginnt.

Alles in allem verdeutlicht das Buch auf eminent praxisrelevante Weise, was Sozial­psychiatrie selbst in einer Großklinik alten Stils sein kann und was sie überall seit jeher auch sein wollte: Eine Psychatrie, in wel­cher der ganze Mensch mitsamt seiner Vor­geschichte, seinen aktuellen Bedürfnissen und seinen verschütteten Entwicklungs­potenzialen im Zentrum aller Bemühungen steht, denen alles andere – der Tagesab­lauf, das Behandlungsmilieu, der Umgang mit den Kranken, die Medikation und alle möglichen institutionellen und adminis­trativen Zwänge – unterzuordnen ist. Eine solche Haltung nimmt in ihren Intentionen eine ganze Reihe von modernen Ansätzen vorweg, die heute unter Stichworten wie Resilienz, Empowerment, open dialogue und Soteria in der Sozialpsychiatrie Furore machen. Deshalb noch einmal: Dieses Buch sollte von allen irgendwie in der Psychatrie Verantwortlichen gelesen werden – und ins­besondere gerade auch von solchen, die sich die Sozialpsychiatrie nicht unbedingt auf ihre Fahnen geschrieben haben.

Luc Ciompi in Psychosoziale Umschau

Letzte Aktualisierung: 01.05.2024