In der öffentlichen Wahrnehmung ist die Psychiatrie aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht. Es gibt heute eine Fülle von Publikationen, die mehr oder weniger die ganze Bandbreite des Faches abdecken.
Medizinhistoriker Heinz Schott und der Psychiater Rainer Tölle legen nun mit ihrem Sachbuch "Geschichte der Psychiatrie. Krankheitslehren - Irrwege - Behandlungsformen" nach. Sie verdeutlichen darin, dass sich viele der intern und öffentlich geführten Kontroversen um die Psychiatrie nur mit der nötigen historischen Tiefenschärfe angemessen verstehen und klären lassen.
Das 668 Seiten starke Buch behandelt in eigenen Kapiteln die Geschichte der Krankenversorgung, der psychiatrisch bedeutsamen Krankheiten sowie ihrer Therapieformen. Auch berücksichtigt es bislang wenig beachtete Themen, wie Religion und Dämonologie, aber auch die Vorläufer im Orient und Okzident. Geradezu verhängnisvoll: "Das Krisenjahr 1868". Damals lehnte die Mehrheit der deutschen Anstaltspsychiater, darunter sogar Carl Friedrich Flemming und Bernhard Heinrich Laehr, die Reformpläne von Wilhelm Griesinger ab. Die Folgen: "Der Typ der Irrenanstalt der 1860er Jahre" bestimmte das Bild der Psychiatrie für ungefähr 100 Jahre! Erst mit der Psychiatriereform in den 70er Jahren setzten sich die Vorschläge Griesingers durch.
Das Kapitel "Psychisch Kranke im Nationalsozialismus" beleuchtet umfassend die Umstände und Motive, die den Boden für Rassenhygiene und Krankenmord bereiteten. Die Rolle der Psychiater stellen die Autoren differenziert dar: "Es ist zu unterscheiden zwischen Haupttätern und Mitläufern, aktiver Beteiligung und passivem Geschehenlassen, Befürworten und Nutznießen, Verhindern und Verweigern. Andererseits muss die Rede von benachteiligten, verfolgten und vertriebenen Psychiatern sein." Nach Schätzungen verließen etwa 70 "wissenschaftlich bedeutsame" Psychiater und Psychoanalytiker Deutschland, insgesamt "über 400". Hintergrundwissen vermitteln die Beiträge "Juden und Psychiatrie", "Missbrauch der Psychiatrie" und "Antipsychiatrie".
Personen, Beispiele, Zusammenhänge und Auswirkungen erscheinen geradezu in einem authentischen Licht. Den Autoren gelingt es, das Menschenbild in der Psychiatrie - von der Vergangenheit bis zur Gegenwart - aufzuspüren. Dabei setzen sie sich kritisch mit zahlreichen Schattenseiten und verhängnisvollen Irrwegen der Psychiatrie auseinander, ohne das Fach zu demontieren. Heinz Schott und Rainer Tölle plädieren für eine Psychiatrie mit philosophisch orientiertem Ansatz. Nicht ohne Grund, denn "die heutige molekulargenetische Biologisierung des Menschen kann möglicherweise dem überwunden geglaubten Sozialdarwinismus (im Gewande des Neoliberalismus) neuen Auftrieb geben und wiederum zu inhumanen Einstellungen gegenüber psychisch Kranken und geistig Behinderten führen".
Ein empfehlenswertes Buch für den Profi wie für den Laien. Bestens geeignet für jeden, der sich für die Geschichte der menschlichen Seele, ihrer Krankheiten und deren Behandlung interessiert. Außerdem bietet der Band genügend Stoff für eine Vorlage zu einer Fernsehdokumentation.
Roland Hartig in Lichtblick Newsletter
Letzte Aktualisierung: 01.05.2024