Vor zehn Jahren ist der deutschniederländische Psychiater, Psychoanalytiker und Autor Hans Keilson im Alter von 101 Jahren verstorben. Selbst Emigrant in den besetzten Niederlanden engagierte er sich für verfolgte jüdische Kinder im Exil und stand auch später in seiner therapeutischen Praxis Personen bei, die als Kinder Verfolgung und Traumatisierung erlebt hatten. Wegen der über eine lange Zeit erlittenen Traumata bedurften diese Kinder und Jugendliche besonderer Zuwendung und Unterstützung.
Für eine Langzeitstudie zur Folgen von Traumatisierung bei Kindern interviewte Keilson zahlreiche von ihnen in den 1960er und 1970erJahren. Ausgehend von seinen Kriseninterventionen und späteren systematischen Forschungen und Nachuntersuchungen von Überlebenden des Holocaust entwickelte Keilson seine Theorie der »Sequenziellen Traumatisierung« (S. 8). Doch fanden seine Forschungen kaum Eingang in die damalige Entschädigungspraxis (S. 16).
Der vorliegende Band geht hervor aus einer Konferenz »Zeitgeschichte und Psychotherapie«, an der Expert:innen unterschiedlicher Fachdisziplinen (Psychoanalyse, Psychotherapie, Geschichte, Gedenkstättenarbeit) teilnahmen. Geleitet wurde die Konferenz durch die beiden Herausgebenden: Barbara Stambolis, Historikerin für Neuere und Neueste Geschichte in Münster, befasst sich in ihrer wissenschaftlichen Arbeit mit kultur, mentalitäts und sozialgeschichtlichen Forschungsfeldern. Ulrich Lamparter, Psychologe und Facharzt für Psychotherapeutische Medizin und Psychoanalyse in Hamburg, beschäftigt sich mit den seelischen Folgen des Zweiten Weltkriegs durch die Generationen. Der Tagungsband befasst sich mit den Schicksalen dieser überlebenden Kinder, der Geschichte von Trauma und Holocaust aus trans wie interdisziplinärer Perspektive. So bewegen sich die Beiträge zwischen therapeutischer »Talking Culture« wie mündlicher Geschichtsschreibung, der »Oral History« und verweisen auf aktuelle Themen wie derzeitige Anhörungs und Asylpraxis, Versorgungs und Behandlungsstrukturen von Geflüchteten.
Nach einem Geleitwort von Michael Schödlbauer nehmen die Beiträge Hans Keilsons Arbeit, die gesellschaftliche Wahrnehmung der belastenden Langzeiterfahrungen der Child Survivors wie auch den Wandel der bundesdeutschen Entschädigungspraxis in den Blick.
Ein Beitrag der Herausgeberin Barbara Stambolis ordnet Hans Keilson zeitgeschichtlich ein, der andere stellt eine Verbindungslinie zwischen traumatisierten jüdischen Kriegswaisen und dem Tagungsort Hamburg her. Ein Biogramm von Keilson und eine chronologisch aufgelistete Werkauswahl bringen der Leserschaft Leben und Werk des Erinnerten näher. Werner Bohleber befasst sich in seinem Beitrag mit der psychoanalytischen Einordnung Keilsons in die Geschichte der Traumatheorie. Dazu richtet Bohleber den Blick auch auf Debatten in den USA, die die Vorstellung thematisierten, »zu akzeptieren, dass soziale, psychologische, politische und ökonomische Faktoren einen Einfluss auf psychiatrische Symptome haben konnten« (S. 54).
Der Aufsatz von Christine Kausch und Katja Happe beschäftigt sich mit den prekären Lebensbedingungen von »Untergetauchten« in den Niederlanden unter deutscher Besatzung. Sie beziehen sich dabei auf ein Interview mit Keilson, das Happe im Zuge ihrer Dissertation im Jahr 2001 führte. Cordula Lissner behandelt in ihrem Beitrag die erzählte Lebensgeschichte jüdischer Kinder, die 1938/39 über Rettungsprogramme ins Ausland gelangen konnten und reflektiert die Frage der Rolle der Zuhörenden und der Erinnerungskultur.
Das Kapitel von Isabel Piesker, Heide Glaesmer und Yuriy Nesterko analysiert aktuelle sequenzielle Traumatisierung unbegleiteter minderjähriger Geflüchteter. Sie konstatieren, dass der Traumabegriff in aktuellen Diskursen sehr diffus verstanden wird. Basierend auf eigenen Untersuchungen, Keilsons Forschungen und der Analyse weiterführender Ansätze entwickeln sie Ansätze »zur Verbesserung der Versorgung und Integration dieser hochbelasteten Gruppe im Aufnahmeland Deutschland« (S. 140).
Im Folgenden geht Gabriele Teckentrup biografischen Hintergründen und einer damit zusammenhängenden Motivation von Frauen nach, sich in der 1968erBewegung politisch zu engagieren. Der Beitrag von Gudrun Brockhaus setzt sich ausgehend von einem Roman Hans Keilsons mit biografischzeithistorischen wie auch den vom Autor vorgenommenen selbstanalytischen Überlegungen auseinander.
Der Band schließt mit dem Beitrag von Reinmar du Bois; dieser befasst sich mit den gewalt und kriegsbedingten Extrembelastungen in Kindheit und Jugend und konstatiert die Möglichkeit, grundlegende Einsichten aus der Forschung zu Child Survivors für derzeit extrem belastete Heranwachsende zu entwickeln.
Neben dem interdisziplinären Zugang zur Thematik und Keilsons Arbeiten eint die Beiträge die Reflexion von Keilsons Kernaussagen, dass nicht nur die existenzbedrohende Verfolgungszeit während des Nationalsozialismus, sondern auch die sich bereits davor aufbauenden Ausgrenzungs und Diskriminierungsdynamiken sowie oftmals fehlender Schutz und Zusendung in der Nachkriegszeit zu berücksichtigen seien, so gehe es in Therapie und Analyse »also um drei Traumatisierungsphasen« (S. 16).
Die hier zu Wort kommenden Expert:innen eröffnen über die interdisziplinäre Herangehensweise, die neueste Erkenntnisse einbezieht, neue Anschlussmöglichkeiten für die Traumaforschung. Der Band vereint sowohl methodisch als auch inhaltlich zahlreiche Aspekte von sequenzieller Traumatisierung und deren transgenerationellen Auswirkungen. Damit ist es den Herausgebenden gelungen, »dazu an[zu]regen [...], aus unterschiedlichen fachlichen Blickwinkeln psychologisch, psychoanalytisch und zeitgeschichtlich interessanten Fragen nachzugehen, die zudem von aktueller gesellschaftlicher Relevanz sind« (S. 21). Zwar wird die Auseinandersetzung mit der komplexen Frage der Weitergabe belastender Erfahrungen an nachkommende Generationen für zukünftige Erinnerungskultur wie therapeutische Arbeit unerlässlich bleiben. Doch dürfen Interessierte bei der Lektüre einen vielseitigen Einblick auf die Geschichte im Spiegel eines Jahrhundertlebens erwarten.
Felicitas Söhner in Sozialpsychiatrische Informationen
Letzte Aktualisierung: 01.05.2024