Klaus Grawe und Kolleginnen (1994) sehen die Psychotherapie in den 1990er-Jahren auf dem Wege »Von der Konfession zur Profession «. Zu Beginn ihrer Monografie über die »Psychotherapie im Wandel« schreiben sie: »Über Jahrzehnte hin herrschten in der Psychotherapie gleichsam mittelalterliche, vorwissenschaftliche Verhältnisse. In den letzten zwei bis drei Jahrzehnten hat so etwas wie eine Aufklärung begonnen, eine im eigentlichen Sinne wissenschaftliche Psychotherapie. Glauben wird allmählich durch Wissen ersetzt, abergläubische Rituale durch professionelles Handeln.
Die Aufklärung ist aber noch nicht weit in das öffentliche Bewusstsein vorgedrungen, [...] und die psychotherapeutische Praxis hinkt den wissenschaftlichen Erkenntnissen nur widerstrebend hinterher. Glaubens- und Interessengemeinschaften, die an der Erhaltung der bestehenden Verhältnisse interessiert sind, sperren sich gegen den Einzug aufgeklärter Vernunft und Professionalität in ihre Bastion sorgsam gehüteter geheimnisvoller Undurchsichtigkeit und verschleierter Ineffizienz.« (S. 1) Diese undurchsichtigen Verhältnisse sind Gegenstand des Buches von Maik Tändler, das auf 500 Seiten mit 700 Literaturbelegen eine Analyse des »Therapeutischen Jahrzehnts« versucht, des »Psychobooms in den siebziger Jahren«.
Um es vorwegzunehmen: Die Bücher von Hendrik Ruitenbeek (1970) über »Die neuen Gruppentherapien« und George Bach (1976) über den »Psychoboom « sind auch vier Jahrzehnte danach spannender zu lesen. Sie sind allerdings auch keine historischen Doktorarbeiten. Ich räume ein, dass ich von den ersten Seiten an mit dem Buch gefremdelt habe, obwohl ich es aufgrund einer neugierig machenden Rezension in der FAZ (Rödder ,3.4.2017, S. 6) gekauft habe. Vielleicht hätte mich der Titel warnen sollen: »Der Endlosschleife fehlte Freuds Seife ...«. Als Warnung für den Leser mag auch die Subventionierung der Veröffentlichung durch gleich drei Sponsoren zu verstehen sein (die Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften, die Axel Springer Stiftung und der Zeitgeschichtliche Arbeitskreis Niedersachsen, in dessen Schriftenreihe das Buch erschienen ist).
Der Autor stellt hohe Ansprüche an sich. Das wird schon in der Wahl der Titel der drei Teile des Buches deutlich: Verwissenschaftlichung des Selbst; Befreiung des Selbst; und Demokratisierung des Selbst. Im ersten Teil macht er »rivalisierende Verwissenschaftlichungen « von Psychiatrie, Psychoanalyse, Psychotherapie und Psychologie aus. Er analysiert zunächst die Psychowissenschaften und den gesellschaftlichen Wandel nach 1945. In diesen Jahren sieht er die »Therapeutisierung « zwischen Modernisierung und Humanisierung. Dabei begreift er die Therapeutisierung als gesellschaftliches Reformprojekt, das sich im Aufstieg und der Ausweitung der Psychotherapie seit Ende der 1960er-Jahre niederschlage.
Er konstatiert die Entwicklung der Psychologie vom »Nischenfach zur therapeutischen Leitwissenschaft « zwischen den Fünfziger- und Siebzigerjahren. Und er sieht die Psychologie in den Siebzigerjahren als »progressive« Wissenschaft, die zugleich helfe und befreie. Im zweiten Teil befasst er sich mit der angeblichen oder tatsächlichen Politisierung der Psychotherapie in den Siebzigerjahren. Stichwortgeber sind Alexander Mitscherlich, Wilhelm Reich und die Frankfurter Schule sowie die »Ur-Kommunen«. Dazu kommen antiautoritäre Erziehung, vor allem in Kinderläden, und die Befreiung der unterdrückten Sexualität. Schließlich entdeckt er »(Selbst)-Pathologisierungsprozesse« in der Studentenbewegung und im linken Milieu. Allerdings geht er im letzten Kapitel dieses Teils unter der Überschrift »Somatisierung, Emotionalisierung, Orientalisierung« auf Aspekte des »post-psychoanalytischen« Psychobooms ein: auf Therapie als Lebensform.
Er sieht eine Entwicklung vom »unterdrückten Trieb« zum »unterdrückten Selbst«. Er geht auf die Gefühlstherapien der Humanistischen Psychologie und die Suche nach »östlicher Spiritualität« ein – also auf einen Teil dessen, was den Psychoboom damals ausgemacht hat. Im dritten Teil geht es dem Autor um »Selbst-Demokratisierung« durch die Gruppendynamik, die er in den Siebzigerjahren verortet, obwohl z. B. Peter Hofstätter seine Gruppendynamik, die viele Auflagen erlebte, bereits 1957 veröffentlicht. Schließlich beobachtet er eine Entwicklung von der Gruppendynamik zum Coaching und versucht einen Ausblick auf die »langfristigen Entwicklungslinien der therapeutischen Selbstführung ökonomisierter Subjekte«. Ein Zitat aus der Schlussbetrachtung des Autors unterstreicht nicht nur dessen Sichtweise.
Es vermittelt auch sprachlich einen Eindruck von dem, was den Leser erwartet, wenn er dieses Buch zur Hand nimmt: »In subjektivierungsgeschichtlicher Perspektive wird deutlich, dass [...] die Auswirkungen des Psychobooms nicht als ›Entnormatisierung‹ von Selbst- und Sozialverhältnissen verstanden werden können. Vielmehr wurde in ihm ein neues und nicht minder normatives Subjektideal konfiguriert. In seinem Mittelpunkt stand die Aufforderung zur emotionalen Selbstreflexion und kommunikativen Öffnung sowie zur kontinuierlichen Arbeit am Selbst unter dem spannungsreichen Anspruch, ein Höchstmaß sowohl an individueller ›Authentizität‹ und Eigenverantwortung als auch an kreativer Selbstgestaltung und flexibler sozialer Anpassungsfähigkeit auszubilden.« (S. 454)
Es mag ja sein, dass die Aufgabe des Historikers Beschreibung und Analyse ist, nicht die Kritik, die sich in der zeitgenössischen Literatur findet. Durch den Verzicht auf Zeitzeugen- Aussagen wirkt die Analyse auf mich allerdings manchmal artefiziell. Als jemand, der dabei gewesen ist, vermisse ich die Lebendigkeit und den Trubel dessen, was ich erlebt und wahrgenommen habe. Vielleicht hat Tändler mit seiner Analyse ja recht. Vielleicht haben wir aber auch beide recht, jeder aus seiner Perspektive. Ich empfehle allerdings jedem Leser dieses Buches auch auf die zeitgenössischen Monografien von Ruitenbeek (1970) und von Bach und Molter (1976) zurückzugreifen.
Asmus Finzen in Sozialpsychiatrische Informationen
Letzte Aktualisierung: 01.05.2024