Erich Wulff, emeritierter Professor für Sozialpsychiatrie Hannover, hat nunmehr seine Autobiografie unter dem leicht ironischen Titel "Irrfahrten. Autobiografie eines Psychiaters" vorgelegt. Das Buch enthält keine spektakulären Enthüllungen, es bietet keine Abrechnungen mit der eigenen Biografie oder mit politischen Weggefährten. Wer solche Erwartungen hatte, kann das Buch ignorieren.
Wer dagegen einen Lebensbericht erwartet, der sich um Offenheit und kritische Reflexion bemüht, und ein gut lesbares, interessantes Buch dazu - dem kann es sehr empfohlen werden.
1968 erschien im Suhrkamp-Verlag unter dem Pseudonym Georg W. Alsheimer ein umfangreiches Buch, das vermutlich relativ wenige Leser fand, aber trotzdem eine große Wirkung erzielt haben dürfte: "Vietnamesische Lehrjahre". Hier beschrieb ein westdeutscher Arzt seine Erlebnisse in den Jahren 1961 bis 1967 vor allem in der alten vietnamesischen Kaiserstadt Hue, in der eine starke neutralistische Strömung buddhistischer Prägung gegen die immer stärkere Intervention der USA in Südvietnam aktiv war.
Alsheimers Kontakte zu Westdeutschen, Franzosen und US-Amerikanern einerseits, zu Vietnamesen aller politischen Richtungen andererseits, ermöglichten dem Autor einen einzigartigen Einblick in das politische und gesellschaftliche Geschehen dieser Jahre. 1979, wenige Jahre nach dem Abzug der US-Amerikaner, dem Sieg der Kommunisten und der Wiedervereinigung des Landes erschien ebenfalls bei Suhrkamp der kritische Bericht Alsheimers, jahrelang international aktiv in der "Vietnamsolidarität" über "Eine Reise nach Vietnam".
Der Autor beider Bücher, Erich Wulff, emeritierter Professor für Sozialpsychiatrie Hannover, hat nunmehr seine Autobiografie unter dem leicht ironischen Titel "Irrfahrten. Autobiografie eines Psychiaters" vorgelegt. Das Buch enthält keine spektakulären Enthüllungen, es bietet keine Abrechnungen mit der eigenen Biografie oder mit politischen Weggefährten. Wer solche Erwartungen hatte, kann das Buch ignorieren. Wer dagegen einen Lebensbericht erwartet, der sich um Offenheit und kritische Reflexion bemüht, und ein gut lesbares, interessantes Buch dazu - dem kann es sehr empfohlen werden.
Am 6. Nov. 1926 in Estland in eine gutbürgerliche Familie hineingeboren, zu deren Freunden der estnische Staatspräsident gehörte, erlebt Wulff die Übersiedlung nach Deutschland am 6. Nov. 1939, die im Zusammenhang mit dem Hitler-Stalin-Pakt erforderlich zu sein scheint, als Vertreibung aus dem Paradies. Das militaristische Deutschland erlebt er als fremd und feindlich. Wulff studiert zunächst Philosophie, die zu dieser Zeit noch die universitäre Psychiatrie beherbergt. Sein Weg als Arzt und Psychiater ergibt sich durch das Vorbild des Vaters und den ortsbedingten Kontakt mit der psychiatrischen Landesklinik in Marburg fast selbstverständlich.
Die Abschnitte über Wulffs Begegnungen mit Kranken, Ärzten und Pflegern in "Cappel" sind sehr eindrucksvoll und machen das spätere Engagement des Autors für eine "offene" Psychiatrie plausibel. Dieses erfolgt in Zusammenarbeit mit bekannten "Antipsychiatern" wie Franco Basaglia. Dem Muff der Nachkriegszeit entflieht Wulff durch möglichst häufige Ausflüge nach Paris. Dort findet er Anschluss an die vom Existenzialismus eines Sartre und einer Beauvoir geprägte intellektuelle Szene. Seine Schriften finden in Frankreich mehr interessierte Aufnahme als im engstirnigen Westdeutschland des Wirtschaftswunders.
Die Chance, im Auftrag der Universität Freiburg und im Einverständnis mit der Bundesregierung nach Vietnam zu gehen, lässt sich Wulff (auch aus Abenteuerlust, wie er einräumt) nicht entgehen. Schnell lernt er die vietnamesische Sprache verstehen und sogar sprechen - etwas, das den meisten selbst lange im Land lebenden "Westlern" nicht gelingt. Es sind nicht nur Arroganz und die üblichen Schwierigkeiten beim Erlernen einer fremden Sprache - es sind die spezifischen Denkstrukturen, die die vietnamesische Sprache dem westlichen Denken verschließen.
Wulffs Analysen zu vietnamesischer Sprache und Denkweise und dem Zusammenhang mit Geschichte und Sozialstruktur des Landes, veröffentlicht etwa im Band "Ethnopsychiatrie" sind bemerkenswert. Die Jahre in Vietnam werden für Wulff zu seinen "vietnamesischen Lehrjahren", der vage links stehende Intellektuelle sieht sich zu einem aktiven Engagement gegen den US-Krieg und später zu einer aktiven Parteinahme für die vietnamesische nationale Befreiungsfront FNL veranlasst.
Die politischen Erstarrungen verbunden mit Fraktionskämpfen, die Verbrechen auch gegen einzelne Freunde Wulffs und den wirtschaftlichen Niedergang durch massive Richtungswechsel von Überzentralisierung und "Liberalisierung", wie sie die achtziger Jahre kennzeichnen, erlebt und verarbeitet Wulff als schmerzhaft und ernüchternd. Einer eigenen Bilanz dieser Entwicklung verweigert er sich in der Autobiografie. Das private Leben wird offen geschildert - ohne exhibitionistischen Habitus.
Erst relativ spät findet der Autor seine aus sephardischer Familie stammende Frau, mit der er drei Kinder hat. Sie werden von der jüdischen Mutter und dem atheistischen Vater zumindest in jüdischen Traditionen erzogen. Die schöne, präzise, nie unnötig komplizierte Sprache des Autors macht das Buch zu einer angenehmen, anregenden Lektüre. In den letzten Kapiteln wird der Fluss des reflektierenden Berichts durch Auszüge aus Briefen und Reden Wulffs unterbrochen. Ein Namensregister fehlt.
Es würde einen zusätzlichen Anreiz zum Lesen bieten und die Rekonstruktion einzelner Begegnungen erleichtern, seien es die mit Prominenten wie Karlheinz Stockhausen oder der fast vergessenen Helga Koppel. Der wunderschöne Abschnitt über Wulffs Pariser Begegnung mit den Bildhauer Alberto Giacometti, kurz vor dessen Tod, ist ein kleines Juwel in diesem bemerkenswerten Buch, das in einem elegischen, vom Abschied nehmen geprägten Ton geschrieben ist.
Dietrich Marquardt in Sozialpsychiatrische Informationen
Letzte Aktualisierung: 01.05.2024