Als 1987 – vor nunmehr 30 Jahren – das Buch »Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr« erstmals erschien, war dies, wie der heutige Vorstandsvorsitzende der Evangelischen Stiftung Alsterdorf Hanns-Stephan Haase im Vorwort herausstellt, eine Pioniertat, die auf eine unerwartet große Resonanz stieß. Nun haben die damaligen Autoren die Publikation zur Geschichte der Alsterdorfer Anstalten im Nationalsozialismus in einer überarbeiteten Fassung neu herausgebracht. Es spricht für die Qualität der Erstausgabe, dass der Text weitestgehend beibehalten werden konnte und sich auch heute hervorragend liest.
Der Titel ist das Zitat aus einem Brief des Landesbischofs von Württemberg Dr. Theophil Wurm aus dem Jahr 1940 an den Reichsminister des Innern, in dem Wurm gegen die »Euthanasie«-Maßnahmen protestierte. Unter den kirchlichen Repräsentanten gab es nur wenige, die sich dem Mordprogramm entgegenstellten – Bekanntheit erlangten auch Pastor Paul Gerhard Braune und Bischof Clemens August Graf v. Galen. Konfessionelle Einrichtungen wie die Alsterdorfer Anstalten waren aktiv an dem Vernichtungsprogramm vermeintlich erbkranker Menschen beteiligt.
»Die Geschichte der Alsterdorfer Anstalten im Nationalsozialismus ist die Geschichte der Verstrickung in das Programm der ›Vernichtung lebensunwerten Lebens‹«, konstatiert das Buch unmissverständlich. Aus Alsterdorf wurden 630 behinderte Kinder, Frauen und Männer in Zwischenanstalten oder Tötungsanstalten abtransportiert. 511 von ihnen wurden getötet. Wie es in Alsterdorf dazu kommen konnte, darauf sucht das Buch Antworten auf ideologischer, institutioneller und individueller Ebene.
Diesen vielschichtigen und kompetenten Blick auf die Verbrechen repräsentieren die Autoren: der Diplompsychologe und psychologische Psychotherapeut Dr. Michael Wunder, die Theologin Dr. Ingrid Genkel und der Historiker und Archivar Dr. Harald Jenner. Die Darstellung der historischen Zusammenhänge setzt notwendigerweise vor 1933 ein. Denn schon vor dem Machtantritt der Nationalsozialisten hatte es einen rassenhygienischen Konsens in Deutschland gegeben, dem sich auch die Wohlfahrtsverbände wie die Innere Mission anschlossen. Ihre Einrichtungen waren nach 1933 an den Maßnahmen der Zwangssterilisation und den späteren »Euthanasie«-Verbrechen beteiligt.
In Alsterdorf trugen der Direktor der Alsterdorfer Anstalten Pastor Friedrich Lensch und der Anstaltsarzt Dr. Gerhard Kreyenberg die Verantwortung. Beide Täterbiografien werden in dem Buch ausführlich dargestellt, ihre Motivation war wohl eine Mischung aus Überzeugung, Karrierismus und Opportunismus. Dass beide Männer nach 1945 wie viele andere ihre Taten herunterspielten und leugneten, passt in dieses Bild. Auch die Tatsache, dass Kreyenberg als Gutachter in Wiedergutmachungsverfahren bei erlittener Zwangssterilisierung über Betroffenen urteilte und dabei seine Gesinnung nicht verhehlte, bildete im Nachkriegsdeutschland keine Ausnahme.
Ein spezieller Beitrag widmet sich dem Schicksal der jüdischen Bewohner der Alsterdorfer Anstalten, die seit 1937 ausgesondert und abgeschoben wurden und damit dem sicheren Tod entgegengingen. Ein großes Verdienst des Buches ist es, dass die Opfer aus ihrer Anonymität geholt werden. Zahlreiche Schicksale werden mit Namen und in der Neuausgabe mit einem Foto porträtiert. Einige der Überlebenden kommen selbst zu Wort – so Albert Huth, der in jener Zeit Tagebuch geschrieben hat und dessen Berichte zur Anklage zweier Täter beitrugen.
Neu hinzugefügt ist ein Kapitel über die Kultur des Gedenkens in Alsterdorf. Michael Wunder erinnert sich, dass die Auftragserteilung für das Buch, die mit der Öffnung des Archivs einherging, im Jahr 1984 eine Wende im Umgang mit der eigenen Geschichte markierte. Das verdeutlicht auch die abschließende Chronik, in der die Stationen der Auseinandersetzung mit den »Euthanasie«-Verbrechen in Alsterdorf und des Gedenkens an die Opfer nachgezeichnet werden. Auch wenn es inzwischen umfangreiche Literatur zum Thema gibt, ist den Autoren und dem Verlag zu danken, dass dieser »Klassiker« wieder gelesen oder neu entdeckt werden kann.
Thomas R. Müller in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 01.05.2024