Dieses Buch spricht Klartext. Und steht vollkommen quer zu gängigen und heute als wissenschaftlich ausgegebenen Auffassungen zur Depression und ihrer Therapie. Denn die Autoren, der promovierte Biologe Peter Ansari und seine als Heilpraktikerin tätige Frau Sabine Ansari greifen zentral an, was seit der Einführung der SSRIs Ende der 1980er Jahre, symbolisiert durch die angebliche Wunderpille "Prozac" (in Deutschland unter dem Handelsnamen "Fluctin" erhältlich), gilt: Depressionen seien am besten mittels Medikamenten, den sogenannten Antidepressiva, zu behandeln.
Die theoretische Grundlage für diese biologisch-pharmakologische Sicht nennt sich bekanntlich "Serotonin-Hypothese". "Vier Millionen Menschen in Deutschland nehmen Antidepressiva" erfährt man gleich zu Beginn des Buches und später, dass diese Zahlen in den letzten Jahrzehnten stark angestiegen sind.
Von der akademischen Psychiatrie und ihren Vertretern werden solche Medikamente als unverzichtbar, hochwirksam und in vielen Fällen als Mittel der ersten Wahl dargestellt. Zwischen 26 Präparaten unterschiedlichster Wirkklassen, angefangen mit den alten Trizyklika bis hin zu den die Wiederaufnahme verschiedener Neurotransmitter hemmenden Medikamenten (SSRIs, SNRIs etc.) habe der heutige Psychiater die Wahl. Doch glaubt man den Ansaris – und alle ihre Thesen sind gut belegt, 343 Quellenangaben zeigen das an –, so ist dies nur eine Scheinwahl: denn alle Mittel machen letztlich das Gleiche, sie greifen irgendwie(!) in die Serotonin-, Noradrenalin- und Dopaminsysteme ein. Und wirken dort zwar, richten dabei aber mehr Unheil an, als dass sie helfen!
Vom "Effizienzmärchen der Antidepressiva" hören wir und dass diese Mittel eben keine Depressionen beseitigen. Stattdessen wird von einer heftigen Absetzproblematik hinsichtlich der ADs berichtet, und dies differenziert für verschiedene Präparate, v.a. hinsichtlich der SSRIs, dargestellt. Das heißt: "Die Menschen werden ihre Mittel nicht mehr los!« Und wie schon im Titel des Buches fällt hier dann das Wort von der »Lüge«, da die Pharmakonzerne das »hohe Abhängigkeitspotenzial ihrer Präparate hartnäckig leugnen". Auch wenn man selbst das anders gelernt hat, ist man doch bereit, den Ansaris in ihrer Argumentation zu folgen, zumal sie darüber aufklären, dass in der ICD-10 sogar ein »SSRI-Absetzungssyndrom« (Codierung Y49.2) verzeichnet ist.
Forscht man unter diesem Begriff weiter, erfährt man von durchschnittlichen Häufigkeiten von ca. 50 Prozent, womit logischerweise die alte Behauptung "Antidepressiva machen nicht abhängig" hinfällig wird. Als ob die geschilderten "Qualen beim Absetzen", die viele Patienten erleben und die von Ärzten fälschlicherweise oft nicht als Entzugssyndrome, sondern als Wiederaufflammen der depressiven Krankheit missinterpretiert werden, nicht reichen, geht es dann noch einen Schritt weiter:
Die Ansaris sprechen nicht nur von einem "Versagen der medikamentösen Therapie", sondern werfen auch die Frage auf: "Machen Antidepressiva depressiv?" Leider muss dies wohl positiv beantwortet werden, denn die Krankheitsstatistiken beschreiben, dass mit der Verdoppelung des Konsums von ADs in den letzten zehn Jahren "gleichzeitig die Zahl der chronischen Depressionen [massiv] anstieg". Keine Frage, wirksame Medikamente hätten die gegenteilige Entwicklung, einen Rückgang der Zahlen bewerkstelligen müssen.
Schaut man nun auf die hinter dem massenhaften Einsatz von ADs stehende Theorie, das sogenannte biochemische Ungleichgewicht, dem angeblichen Serotoninmangel in den Zellzwischenräumen des Gehirns, so überrascht die mangelhafte Wirksamkeit der Medikamente nicht mehr. Denn diese, als "Serotonin-Theorie der Depression" bekannt gewordene These sei "seit vielen Jahren widerlegt". Liquormessungen, die heutzutage möglich sind, belegen das eindeutig: "Weder ein niedriger Serotoninwert noch ein niedriger Noradrenalin- oder Dopaminwert können eine Depression auslösen."
Und auch die Besserung nach einer Depression finde davon unabhängig statt. Womit die Transmitter-Hypothese der Depression als ein "nicht haltbarer, von der Pharmaindustrie verbreiteter Mythos" entlarvt wird. Und damit erreichen Peter und Sabine Ansari den eigentlichen Motor hinter dem einseitig biologisch ausgerichteten Depressionsverständnis der letzten 30 Jahre: die Marketingabteilungen der großen Pharmafirmen!
Sehr präzise und reichlich mit Quellen versehen wird hier beispielsweise von der (zunächst gescheiterten!) Markteinführung von "Prozac" berichtet, von den "Lügen bei der Zulassung von Antidepressiva" allgemein. Geschönte bzw. gefälschte Studien, nachträgliche Datenmanipulationen, Bestechungen und mehr purzeln einem entgegen und machen fassungslos. Letztlich scheint dieser Marketingaufwand »notwendig, um über die geringe Wirksamkeit und das hohe Abhängigkeitspotenzial der Antidepressiva hinwegzutäuschen«. Und die Beeinflussung der Ärzte gelang wohl in solch einem Maße, dass der langjährige Vorsitzende der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, Prof. Müller-Oerlinghausen, in seinem Vorwort zu dem Buch von einer "Gehirnwäsche [sic!] einer ganzen Generation von Psychiatern" durch die Machenschaften der pharmazeutischen Industrie spricht.
Leidtragende sind dann aber vor allem die Patienten, die sich in ihrer großen Not den Fachleuten blind anvertrauen und dafür bisweilen mit einer lebenslangen Abhängigkeit von den Medikamenten bezahlen müssen. Einige kritische Psychiater sind heute sogar überzeugt, "dass die Medikamente einen depressiven Zustand chronifizieren können".
Welch ein Irrsinn, kann man da am Ende nur sagen und hoffen, dass dieses fundierte und geradlinige Buch viele Leser, sowohl Betroffene als auch Fachleute, erreicht. Die Ansaris schließen jedenfalls mit der Hoffnung, dass "die Ära der Antidepressiva [bald?] endet". Leuchtzeichen hierfür ist ihnen die Tatsache, dass sich alle großen Hersteller mittlerweile aus der Antidepressiva-Forschung zurückgezogen haben. Zumindest das ist als realistischer Schritt zu betrachten, denn wer die hochkomplexe seelisch-körperliche Erkrankung Depression als "reine Gehirnerkrankung" konzipiert, muss zwangsläufig scheitern.
Jürgen Karres in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 26.04.2024