»Depressive Phasen gibt es vermutlich seit Anbeginn der Menschheit.« Wenn ein von einem Facharzt für Psychiatrie geschriebenes Buch über Antidepressiva (AD) mit so einem Satz beginnt, kann man erahnen, dass einem hier nicht die üblichen Arien über den angeblichen Segen moderner Psychopharmaka entgegenschlagen. Aber auch nicht ein auf Vorurteilen beruhender Verriss.
Und in der Tat, der Leser wird nicht enttäuscht. Was Tom Bschor, Chefarzt der psychiatrischen Abteilung der renommierten Schlosspark-Klinik in Berlin und einer der Mitautoren der S3-Leitlinie zur Depression, liefert, ist breite und höchst differenzierte Aufklärung zum Thema »Antidepressiva« – wie es sie auf dem deutschen Buchmarkt bislang nicht gab!
Das Buch gliedert sich in zwei Hauptteile: In einem ersten theoretischen wird darüber informiert, »was Sie über Antidepressiva wissen sollten«; der zweite Teil fungiert dann als Ratgeber, wie man AD »richtig anwendet«, und klärt auch darüber auf, »wann Sie sie nicht nehmen sollten«.
Einleitend erfährt der Leser Geschichtliches: dass die Entdeckung des wesentlichen pharmakologischen Prinzips der Depressionsbehandlung in einem »Gründerjahrzehnt« (1950er Jahre) erfolgte und – das ist wichtig! – »sich seitdem nicht relevant weiterentwickelt hat«. Ja, das gelte auch für die angeblich so modernen SSRI etc., die im Grunde nach denselben Wirkprinzipien funktionieren. In der Summe hätten sich die in der anfänglichen Euphorie geweckten Hoffnungen »zu großen Teilen nicht erfüllt«.
Auch über die Zulassung von Medikamenten wird informiert und darüber, dass für den Bereich der Psychopharmakotherapie ein Gesetz von 2011 zwar zu einem Rückgang von Scheininnovationen (sogenannter Me-too-Präparate) geführt hat, nicht aber zur Entwicklung neuer Medikamente. Im Gegenteil, es resultierte in den letzten Jahren »ein weitgehender Stopp der psychopharmakologischen Entwicklung«, ein Stillstand, der den großen und wachsenden Behandlungsbedarf in keiner Weise befriedigt.
Nach diesem ernüchternden Beginn wird detailliert über den (unbefriedigenden) Status quo aufgeklärt: darüber, dass bei den dreißig sich auf dem deutschen Markt befindlichen AD »die Gemeinsamkeiten überwiegen«, nämlich fast alle die Konzentration der Nervenbotenstoffe Serotonin und Noradrenalin im synaptischen Spalt beeinflussen. Es folgt ein guter Überblick darüber, wie es, beginnend mit Tierversuchen, am Ende mittels großer placebokontrollierter Studien (RCTs) zur Entwicklung (neuer) Medikamente kommt. Um dann die Gretchenfrage zu stellen: »Wie wirksam sind Antidepressiva?«
Es ehrt den Autor, dass er – im Gegensatz zu anderen! – auf die Widersprüchlichkeit der Studienlage hinweist. Und fragt: Heißt »statistisch signifikant« denn auch »klinisch wirksam«, sodass der Patient eine Besserung erfährt? Sein Fazit lautet: »Zweifel an der Wirksamkeit von Antidepressiva«!
Nach der Zurückweisung der Serotoninmangelhypothese – ein »Märchen«! – und der anderen großen Fehlmeinung, dass Antidepressiva vor Suiziden schützen – nur für Lithium ist das bestätigt! – scheut sich Bschor auch nicht, Nebenwirkungen, Entzugs- und Reboundphänomene anzusprechen und die Frage zu stellen, ob AD nicht doch abhängig machen. Das heikle Resümee, im Konjunktiv allerdings, besagt: »AD würden dann Depressionen vielleicht kurzfristig behandeln, aber langfristig das Problem vergrößern.«
In der Überleitung zum Praxisteil fragt Bschor, wie es angesichts all dieser Mängel zu dem AD-Verschreibungsboom der letzten Jahre hat kommen können. Eine Erklärung lautet, dass »das Verschreiben eines Medikaments einer komplexen Erkrankung eine einfache, wenngleich falsche Erklärung gibt«. Zudem verwechsle man heute allzu oft schwierige, aber normale Lebensereignisse mit Krankheiten und behandle dann mit Medikamenten.
Zu erkennen, ob es wirklich eine Depression ist, ist demnach der erste Schritt bei der Klärung der Frage, ob AD eingesetzt werden sollen. Argumente, die für eine Medikation sprechen, werden ebenso diskutiert wie Gründe, die dagegenstehen. So z.B. die Gefahr, dass, »wer einmal mit einem AD beginnt, möglicherweise große Schwierigkeiten hat, davon wieder loszukommen« – eine notwendige Aufklärung, die man Patienten leider meist vorenthält. Statt der eingeschränkten Dichotomie Antidepressiva und/oder Psychotherapie benennt Bschor mehrere Hilfsmaßnahmen (Tagesstrukturierung, Einhaltung eines Tag-Nacht-Rhythmus, Sport u.a.), die allesamt eigenhändig umsetzbar sind und dem informiert-aufgeklärten Patienten Wege aus dem dunklen Tal aufzeigen können.
Das Buch endet mit einer hoch differenzierten Abhandlung, wie man eine AD-Behandlung gut beginnt und richtig darin fortschreitet – je nachdem, ob das AD hilft oder nicht. Zum Schluss plädiert der Autor für einen Stufenplan in der Depressionsbehandlung.
Ein aufklärerisches Buch, das Orientierung in dem schier undurchdringbaren Dschungel der Literatur zur Medikamentenbehandlung von Depressionen bringt.
Jürgen Karres in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 26.04.2024