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Psychiatrie Verlag

Absetzstrategien für Antidepressiva aus einer anderen Psychiatrie

Antidepressiva haben aufgrund jahrzehntelanger Vermarktungsstrategien der Pharmaindustrie bei Ärzten (und auch in der Öffentlichkeit) den Nimbus hochwirksamer und weitgehend nebenwirkungsfreier Medikamente errungen. Bisweilen wurden und werden sie als quasi risikolose Präparate, mit denen man nichts falsch machen könne, ausgegeben. Und weitere, oft gegebene Zusatzinformation an die Patienten: Sie machen nicht abhängig und können jederzeit wieder abgesetzt werden!

Wie weit diese auch in Deutschland gängige klinische Praxis von der Wirklichkeit entfernt ist, macht das in der Originalausgabe erstmals 2021 erschienene Buch des international angesehenen Psychiaters Giovanni A. Fava deutlich. Das Besondere an diesem an der Universitá di Bologna tätigen Autors ist neben seiner jahrzehntelangen praktischen Erfahrung auf dem Gebiet der Depressionsbehandlung die Tatsache, dass er auch als Forscher tätig ist.

Hochdifferenziert entwickelt Fava in 13 Kapiteln die von ihm entwickelte Strategie »zum personalisierten Begleiten von Absetzproblemen«. Und wenn man ihn liest und die Debatte aus Deutschland zugrunde legt, wo Absetzprobleme für Antidepressiva (AD) lange bestritten wurden, kommt man sich vor wie auf einem anderen Kontinent. Und nimmt höchst erfreut längst überfällige Einsichten von fachlicher Seite zur Kenntnis, die zuvor gemachte Patienten-erfahrungen endlich bestätigen. Und ganz selbstverständlich spricht Fava auch von einem Entzugssyndrom und nicht, wie von Big Pharma verharmlosend propagiert, von Absetzungserscheinungen.

Denn eines ist klar: »Das Absetzen von AD ist mit einer Vielzahl von klinischen Symptomen verbunden.« (S. 20) Dies gilt zumindest für die seit den 1990er-Jahren auf dem Markt befindlichen SSRI und SNRI. Wobei »die Erscheinungsformen und die Dauer der Symptome von Patient zu Patient sehr unterschiedlich ausfallen können« (S. 21). Und da Betroffene oftmals keine Unterstützung bei ihren Ärzten fanden, suchten sie Hilfe außerhalb des Gesundheitssystems, u. a. in Onlineforen wie surviving.antidepressants.org. Fava und Kollegen versuchten nun, aufbauend sowohl auf ihre klinischen Erfahrungen als auch über selbst durchgeführte Studien, dieser medizinischen Unkenntnis ein neu generiertes Wissen gegenüberzustellen. Eines, das Patienten in ihrer Not nicht mehr allein lässt, sondern ärztliche Begleitung beim Reduzieren (Tapering) und Absetzen von AD ermöglicht. Das vorliegende Buch ist gewissermaßen die Handlungsanleitung dazu.

Das breite Spektrum klinischer Erscheinungen beim Entzug, mit sowohl somatischen Symptomen (wie z. B. Schwindel, Übelkeit) als auch psychischen (u. a. Unruhe, Angst, Panikattacken), wird ausführlich in einer Übersicht auf S. 23 dargestellt. Wobei all diese Beschwerden »mild sein und sich spontan innerhalb von 1 – 3 Wochen zurückbilden«, aber auch »über Monate oder sogar Jahre anhalten« können (ebd.).

Hinzutreten können klinische Manifestationen, die Fava unter dem Begriff der Verhaltenstoxizität zusammenfasst: Der Verlust an Wirksamkeit, paradoxe Wirkungen, Übergänge in einen manischen Verlauf oder auch Therapieresistenz und refraktäre Verläufe (s. Kap. 3). Neu ist bei Fava das »Konzept der iatrogenen Komorbidität« (S. 39). Diese bezieht sich auf ungünstige Veränderungen, die mit der zuvor erhaltenen (medikamen-tösen) Behandlung zusammenhängen und nach dem Absetzen anhalten (Entzugssyndrome). Nach seinem oppositionellen Toleranzmodell »kann eine fortgesetzte medikamentöse Behandlung Prozesse stimulieren, die den anfänglichen akuten Wirkungen eines Medikaments entgegenwirken«. So dass eine langfristige Einnahme von AD »die Chronizität und Anfälligkeit für depres-sive Störungen erhöhen kann« (S. 46 f.).

Viele Gründe also, AD auch wieder abzusetzen. Basal plädiert Fava hierbei für eine gemeinsame Entscheidungsfindung von Arzt und Patient. In Kap. 6 wird dann das Setting für das begleitete Absetzen dargestellt. Fava hat hierfür eine Spezialambulanz gegründet, in der Psychiater, Internisten und klinische Psychologen das entsprechende Programm interagierend durchführen. Wesentlich hierbei ist, auch »iatrogen zu denken« (S. 71), d. h. frühere Behandlungen in der psychiatrischen Beurteilung mit zu erfassen. Und immer geht es Fava darum, das medizinische Wissen auf den einzelnenPatienten anzuwenden, statt auf den sich aus EBM-Studien ergebenden Durchschnitt. All das im Rahmen eines »sequenziellen Modells«, in dem auf die Behandlungsform Pharmakotherapie eine psychotherapeutische Strategie folgt, in der auch die individuellen Reaktionen des Patienten validiert werden.

Fava weicht von den herkömmlich bei De-pressionen angewendeten Ansätzen also weit ab. Er möchte eine »Gegenkultur« (S. 131) entwickeln, was in der Summe seiner Ausführungen auch fantastisch gelingt. Man kann nur hoffen, dass seine »Leitlinien für eine klinische Revolution« (S. 139) von der Mainstream-Psychiatrie auch gehört werden. Das Buch – ein großer Wurf!

Jürgen Karres in Sozialpsychiatrische Informationen

Letzte Aktualisierung: 08.11.2024