Den Gebrauch von Psychopharmaka massiv zu begrenzen, wäre vernünftig. Aber die Welt und auch die Psychiatrie werden nicht von Vernunft regiert. Susan Sontag schrieb bereits 1963, dass wir in einer Zeit leben, die bewusst auf Gesundheit aus ist und dennoch an die Realität der Krankheit glaubt. Und immer noch an die Notwendigkeit von Dauermedikation, müssen wir ergänzen.
Peter Lehmann, Verleger und einer der wichtigsten deutschen Psychiatriekritiker mit Standvermögen, hat nun zusammen mit dem englischen Psychologen Craig Newnes wissenschaftlich fundiert und in kluger Synergie mit dem Psychiatrie Verlag ein Buch zum Thema »Psychopharmaka reduzieren und absetzen« mit »Praxiskonzepten für Fachkräfte, Betroffene und Angehörige« herausgegeben. Es gibt nichts Vergleichbares zu diesem Thema, nichts Aktuelleres und nichts Umfassenderes. Dieses Gemeinschaftswerk bringt es auf den Punkt: strukturiert, übersichtlich und präzise.
Mit einer beachtenswerten Schar an engagierten Ärzten und Ärztinnen gelingt es den beiden Herausgebern, mit Fehlinformationen über Abhängigkeits- und Entzugsprobleme aufzuräumen. Es geht um kompetente Hilfe beim selbstbestimmten sowie beim ärztlich für notwendig befundenen Absetzen speziell von Antidepressiva und Neuroleptika. Zu selten werden ärztlicherseits Absetzversuche unternommen bzw. das Reduzieren und Absetzen auf Wunsch der Betroffenen unterstützt. Und meist fehlt es an der Kompetenz und dem Wissen, sie über körperliche Abhängigkeitsrisiken, Entzugsprobleme und deren Vermeidung oder Milderung zu informieren.
Die unterschiedlichsten Psychiatrie-Experten und -Expertinnen kommen im Buch zu Wort, seien sie praxiserfahrene Pfleger, Ärzte und Ärztinnen, Psychologen und Psychologinnen oder andere engagierte Sachkundige. Sie thematisieren die vielen Risiken und Hürden beim Absetzen sowie das umsichtige Vorgehen, das erforderlich ist. Die versammelten Koryphäen und Absetzbegleiter – u.a. Uwe Gonther, Stefan Weinmann, Jann E. Schlimme und Anna Emmanouelidou – zeigen auf, wie man sich durch strukturiertes institutionalisiertes Vorgehen an das risikoarme Absetzen von Psychopharmaka machen kann (eventuell mit Ausschleichstreifen oder individuellen Rezepturen) und wie Reboundsymptome bewältigt und Psychopharmakakombinationen aufgelöst werden können. Newnes und der Medizinjournalist Robert Whitaker klären über die angebliche prophylaktische Wirkung von Antidepressiva und Neuroleptika auf. Das Geleitwort schrieb die stellvertretende Vorsitzende des Gesundheitsausschusses des Bundestags, die Psychiaterin Kirsten Kappert-Gonther; sie ist die Vorsitzende der Aktion Psychisch Kranke e.V. (APK).
Die wichtige Forderung nach psychopharmakafreien Stationen spielt im Buch dann eine Rolle, wenn es bei einer absetzbedingten Krise um eine kurzfristige stationäre Aufnahme geht, die vorübergehend im Schutzraum einer Klinik durchstanden werden soll, ohne dass – wie ansonsten üblich – die Dosis wieder hochgefahren wird. Martin Zinkler veranschaulicht das Vorgehen, das er hierzu in der Heidenheimer Klinik entwickelt hat.
Bei der Bewertung der therapeutischen Wirkung von Psychopharmaka müssen für Peter Lehmann die Risiken der Toleranzentwicklung, dauerhafter Rezeptorenveränderungen und der Behandlungsresistenz ins Kalkül gezogen werden. In seinem Beitrag listet er die seit Anfang der 1950er Jahre publizierten, vermutlich vergessenen oder verdrängten Berichte über körperliche Abhängigkeitssyndrome auf, ebenso die Versuche der Pharmaindustrie, die Abhängigkeitsproblematik mit dem hanebüchenen Argument wegzureden, es handele sich um keine körperliche Abhängigkeit, da kein Suchtcharakter (Craving) vorliege.
Wichtigstes Ziel des Buches: Möglichst alle an Entscheidungsprozessen Beteiligten greifen die hoffnungsvollen und konstruktiven Botschaften auf und unternehmen alles in ihren Möglichkeiten Stehende, damit Hilfeprogramme für ein risikoarmes Absetzen von Psychopharmaka entwickelt und finanziert werden. Diese Hilfeprogramme fordert inzwischen auch die WHO.
Zielgruppen sind Professionelle im medizinischen und psychosozialen Bereich, Angehörige, journalistisch Tätige sowie die interessierte Öffentlichkeit. Und natürlich die Patientinnen und Patienten selbst. Sollten sie keine hilfsbereiten Ärzte und Ärztinnen finden: Das Buch liefert auch Hinweise auf Online-Unterstützung und verantwortungsvolle und umsichtige Selbsthilfestrategien.
Gute Lesbarkeit hat Priorität – es ist Lehmanns Anspruch, dass komplizierte Fakten auch von Nichtakademikern verstanden werden! Hoffnung, kluge Strategien, Zuversicht sind zurückzuerobern, ein Leben jenseits von alten Abhängigkeiten ist möglich, hinter allem vermeintlich Aussichtslosen gibt es erfolgsversprechende Wege. Also dieses Buch lesen, heißt meine Empfehlung!
Brigitte Siebrasse in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 26.04.2024