Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
Dachverband Gemeindepsychiatrie
Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen
Psychiatrie Verlag

Schöne neue Psychiatrie

Peter Lehmann, das ist Name und Programm zugleich. Mit seinem "Chemischen Knebel" hat Peter Lehmann sich in die neuere Psychiatriegeschichte eingeschrieben. Unter den radikalen Psychopharmaka-Kritikern ist er als Nicht-Pharmakologe, Nicht-Chemiker, Nicht-Arzt gewiß der kompetenteste.

Eine Fundgrube

In jedem Fall ist er - die gerade genannten Berufsgruppen eingeschlossen - der belesenste. 1100 Literaturverweise im ersten Band, 1677 im zweiten suchen ihresgleichen. Peter Lehmanns "Schöne neue Psychiatrie" ist eine Fundgrube für jede Fachfrau und jeden Fachmann. Nirgendwo sonst sind so viele Informationen über unerwünschte Wirkungen von Psychopharmaka aller Art, insbesondere aber von Neuroleptika, zusammengetragen.

Peter Lehmanns Buch ist ein großartiges Geschenk an die Psychiatrie. Diese hat allen Grund, sich bei ihm für den immensen Arbeitsaufwand zu danken, den er für sie und für die psychisch Kranken geleistet hat. Das bedeutet nicht, daß nicht doch noch einige Wünsche offenbleiben. Entscheidender: Ich würde mir wünschen, Peter Lehmann wäre nicht so radikal; Peter Lehmann wäre ausgewogener; Peter Lehmann würde mit der gleichen Inbrunst und Intensität, mit der er die Psychiatrie und die Psychopharmaka kritisiert, auch die psychischen Leiden selber betrachten. Ich weiß natürlich, daß das ein frommer Wunsch bleiben muß. Denn das, was ich in über dreißig Jahren als psychische Krankheiten kennen- und behandeln gelernt habe, existiert für Peter Lehmann so nicht.

Zugang zur schönen neuen Psychiatrie

Das macht es für mich als Arzt sehr viel schwieriger, den Zugang zu seiner schönen neuenPsychiatrie zu finden, als als Wissenschaftler, der sich über die - wiewohl unausgewogene - Fülle von Daten freuen kann. Als Arzt, der weiß, daß die Kranken, die ihn aufsuchen, zum beträchtlichen Teil in furchtbarer Weise unter ihren Symptomen leiden, treffe ich eine andere Risiko-Nutzen-Abwägung als er.

Ich bin überzeugt davon, daß die Entwicklung der Pharmakopsychiatrie während der letzten vier Jahrzehnte zu einem erheblichen, wenn auch unvollkommenen Fortschritt der Behandlung psychischer Störungen geführt hat, obwohl diese Entwicklung viele Wünsche offenläßt. Jene Kollegen, die eine Generation älter sind als ich und die Zeit davor miterlebt haben, sagen, wie Max Müller beispielsweise: "Es war die Hölle." Das hat sich geändert, wiewohl ich gerne einräume, daß kein Paradies daraus geworden ist.

Gespaltene Beurteilung

So bleibt denn meine Beurteilung von Lehmanns 800-Seiten-Werk gespalten: Uneingeschränkte Empfehlung für alle, die seine Ergebnisse mit ausreichend fachlich fundiertem Hintergrund lesen können, also vor allem Psychiaterinnen und Psychiater, die die Relevanz seiner Mitteilungen beurteilen und zwischen wichtigen und redundanten Informationen unterscheiden können. Leserinnen und Leser, die nicht auf eine medizinische oder pharmakologische Grundausstattung zurückgreifen können, rate ich von dem Buch eher ab. Die Perspektiven stimmen meiner Meinung nach nicht.

Wer behandlungsbedürftig ist und Lehmann glaubt, für den sind allerlei Irrwege vorprogrammiert. Die Behandlung akuter Psychosen ohne Neuroleptika beispielsweise – es wäre zu schön, wenn das möglich wäre. Aber es ist es nicht – leider! Allenfalls, wer ohnehin fest entschlossen ist, gegen den Rat seines Therapeuten die Medikamente wegzulassen, kann bei Lehmann nachlesen, wie man das ohne allzu großen zusätzlichen Schaden macht. Also: Psychiatrisch Tätige, lest das Buch, schon damit Ihr mit jenen Kranken diskutieren könnt, die es auch gelesen haben!

Asmus Finzen in Soziale Psychiatrie

Letzte Aktualisierung: 26.04.2024