Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
Dachverband Gemeindepsychiatrie
Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen
Psychiatrie Verlag

Die Wirklichkeit kommt - Paranoia war gestern

Mag sein, dass sie in den Kliniken, den psychiatrischen Praxen und bei den Psychotherapeuten äußerst selten in Erscheinung treten. Doch Polizei und Sozialpsychiatrische Dienste kennen sie gut: Bürger, die überzeugt davon sind von Geheimdiensten oder anderen geheimnisvollen Organisationen abgehört und überwacht oder mit ausgefeilten Methoden beeinflusst zu werden. Für Professionelle heißt das Stichwort paranoide Psychose, wahnhafte Störung oder Technik-Wahn.

Niels Bolbrinker nimmt sie erst einmal ernst und stellt uns in seinem Dokumentarfilm "Die Wirklichkeit kommt" einige exemplarische Protagonisten vor. Er besucht Männer in Berlin und Thüringen, die über ausgefeilte Überwachungstechniken klagen, die ihnen auch körperliche Schmerzen zufügen. Ein Mann in der westdeutschen Provinz zeigt seine Utensilien - den Imkerhut, den Helm aus Alufolie, die aufgetürmten Klamottenberge in seiner Schlafstube, mit denen er sich vor den Strahlen schützen will. Stets sind blinkende oder piepsende Messgeräte im Einsatz, die den Befund scheinbar erhärten. Frau Bade, eine in Russland aufgewachsene ehemalige Rundfunkredakteurin flüchtet mit Billigflügen durch die Welt und ist überzeugt davon, dass sie über einen in ihrem Gehirn implantierten Chip geortet wird. Sogar der Sendermann taucht aus der Versenkung auf; er wanderte einst mit seinem Schild durch das studentenbewegte Westberlin.

Im Sozialpsychiatrischen Dienst haben wir uns an sie gewöhnt, wir stöhnen, wenn wieder ein Tätigkeitsbericht der Polizei kommt und bieten halbherzig Beratungsgespräche an, die stets empört abgelehnt werden. Uns schienen diese Menschen Einzelgänger zu sein, isoliert und ausgesondert von ihrer Umwelt durch den Wahn. Doch der Film zeigt, was wir längst hätten ahnen müssen: Das Internet vernetzt auch sie, und bietet ihnen - wer möchte es bewerten - Unterstützung und neue Nahrung. "Victims of mind control" heißt eine der vielen weltumspannenden Selbsthilfegruppen der anderen Art, der auch die vorgestellten Menschen angehören.

Doch dies ist nur der eine, quasi psychiatrische Strang des Films, dem Niels Bolbrinker nun einen zweiten entgegensetzt. Welche Techniken der Überwachung und Beeinflussung gibt es denn inzwischen wirklich? Er reist zu den Wissenschaftlern und Konferenzen und lässt sich erklären, wie winzige Drohnen zur Überwachung eingesetzt werden, mit welchen Programmen auffällige Personen aus Telefonaten oder Verkehrsströmen herausgefiltert werden können, oder wie menschliches Verhalten von Neurowissenschaftlern beeinflusst oder gar gesteuert werden kann. Tierversuche, Menschenversuche, Animationen und menschliche Avatare faszinieren und ängstigen zugleich.

Immer wieder sind Statements dazwischen montiert: Constanze Kurz vom Chaos Computer Club bestätigt den Verdacht einer allgegenwärtigen Kontrolle, die Freiheit und Demokratie schon deshalb bedroht, weil wir wissen, dass wir überwacht werden. Bolbrinker besucht Thomas Fuchs, der in Heidelberg philosophische Grundlagen der Psychiatrie lehrt und nun Kronzeuge einer weiteren, wahrlich ungeheuren Vermutung wird: Wissen die Menschenmit Technik-Wahn vielleicht längst, was nun - siehe Big-Data und NSA - Realität geworden ist? Die Prinzhorn-Sammlung wird geöffnet, einige Patientenbilder bedrohlicher Szenarien aus den letzten 150 Jahren dienen als Hinweis. Haben diese Patienten nicht bereits unter den Strahlen gelitten, die dann erst Jahrzehnte später entwickelt wurden? Sind unsere Sendermänner und Chipfrauen am Ende Propheten?

Natürlich ist die Erkenntnis nicht neu, dass der Wahn das aktuelle kulturelle Referenzsystem spiegelt. So profitieren wir von Bluetooth, GPS und Mobilfunknetzen, oder werden eben mental durch sie infiltriert und manipuliert. Neu und vor allem für uns psychiatrisch Tätige fast schmerzhaft ungewohnt ist der Gedanke, dass psychisch Kranke die Avantgarde sein könnten, hellsichtige Seismographen einer bedrohlichen Zukunft.

Schon einmal wurden sie - vom Sozialistischen Patientenkollektiv Heidelberg - in diesem Sinne missbraucht, manche werden sich erinnern. Doch was wäre die Konsequenz, würden wir ihre Berichte aus der Zukunft ernst nehmen?

Das Drehbuch des Autors wurde durch Edward Snowden und die NSA-Affäre ein wenig aus dem Konzept gebracht. Dann hat er die Chance genutzt und den neuen Stoff eingearbeitet. Das merkt man der Dramaturgie ein wenig an. Es wurde viel geschnitten und montiert, und es bleibt dem Zuschauer keine andere Wahl, als Bolbrinkers Gedankengang zu folgen. So fühlte ich mich auch von ihm ein wenig manipuliert.

"Die Wirklichkeit kommt" ist visuell ein großer Genuss, doch inhaltlich keine leichte Kost. Mindestens zweimal habe ich mich ausgeklinkt; nicht alles leuchtet ein. Es lässt sich hinterher wunderbar streiten, nachdenken oder auch lästern. Wer noch nicht die ehemalige Abhörstation der Amis auf dem Teufelsberg mit ihren zerfledderten Kuppelhäuten besucht hat, der kann sich nun vielleicht endlich dazu aufraffen. Zu pittoresk strahlt sie über dem Himmel von Berlin.

Ilse Eichenbrenner

Letzte Aktualisierung: 12.04.2017