Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
Dachverband Gemeindepsychiatrie
Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen
Psychiatrie Verlag

Qiu (Insassen)

Nahezu fünf Stunden verbringt der Zuschauer gemeinsam mit der Filmemacherin Ma Li auf einer geschlossenen Akutstation für Männer in einer großen Psychiatrischen Klinik im nördlichen China. Es gibt keine Einführung, keinen Kommentar, keine Stimme aus dem Off. Dass Ma Li mit ihrer Kamera anwesend ist vergisst man völlig. Auch die Patienten scheinen es vergessen zu haben, im Gegensatz zum Personal, das zwar eher selten zu sehen ist, dann aber sehr kamerabewusst agiert.

Der Film beginnt mit einem kurzen Aufnahmegespräch zwischen einer jungen Krankenschwester und einem gutaussehenden, stattlichen Mann. Was er früher beruflich gemacht habe? Er sei Hochschullehrer, noch immer. Später wird genau dieser Mann in langen Einstellungen über seine Versuche berichten, ein erfolgreiches Unternehmen aufzubauen. Die behandelnde Ärztin diagnostiziert eine leichte Manie. Er verbringt viele Monate auf dieser Station.

Wenige Einstellungen zeigen die riesigen Klinikgebäude von außen, andere scheinen von einer Videoüberwachung zu stammen. Doch von nun an befindet sich der Zuschauer in einem der Krankenzimmer, in dem sieben Betten aufgebaut und belegt sind. Die Bettgestelle sind sehr modern und aus Plastik, Bettwäsche und die Pyjamas der Männer tragen kleine Muster. Die Farben sind entsättigt, beinahe schwarz weiß, und nur selten sticht ein roter Pullover oder ein grüne Hose aus dem Allerlei. Abgesehen von den Wasserflaschen, die jeder bei sich trägt, sind keine persönlichen Gegenstände zu sehen.

Das Personal trägt weiße Arbeitskleidung, eine Art Uniform. Die Tür des Zimmers ist häufig geöffnet; dann steht davor ein bequemer Sessel, in dem meist ein Pfleger eine Art Sitzwache hält. Relativ schnell wird fixiert, mit langen schwarzen Bändern und Klettverschluss. Häufig werden nur die Arme festgebunden, manchmal auch die Beine. Der Spielraum dieser Bänder ist relativ groß, die Maßnahme scheint eher selbstverständlich und wird nicht weiter thematisiert.

Die Patienten reden viel miteinander, vielleicht animiert von Ma Lis Anwesenheit; sie fragen sich aus, sie erzählen sich ihre Lebensgeschichten und tragen Gedichte vor. Besonders beliebt sind Lebensweisheiten und Sprüche, aber auch Berichte über materielle und sexuelle Nöte, die schwierige Jugend. Einzelne erzählen von ihren Stimmen, ihren Halluzinationen und Attacken im Verfolgungswahn. Sie erhalten Neuroleptika, vermutlich hochdosiert, und staunen selbst ein wenig über ihr wahnhaftes Erleben. Es ist viel Zeit zum Reden und Reflektieren: Was ist psychische Krankheit? Wer ist normal, wer ist verrückt? Sind es nicht eher doch die anderen?

Manche drängen beständig auf Entlassung, telefonieren mit der Ehefrau oder der Mutter, und werden offensichtlich beschwichtigt oder abgekanzelt. Einmal folgt Ma Li den Männern zur Medikamenteneinnahme. Die Pfleger prüfen, ob wirklich geschluckt wurde. Ein Patient wird zur Einnahme gezwungen.

Für eine besonders ergreifende Szene nimmt sich Ma Li viel Zeit. Eine Mutter sitzt am Bett ihres hochgradig geängstigten Sohnes und versucht, ihn wie ein kleines Kind zum Einschlafen zu bringen. Er starrt sie an, lehnt sich schutzsuchend an sie. Er wirkt starr, eingebunden, und trotzdem erregt. In den Bemühungen der Mutter wird das Entsetzen deutlich, das die völlige Veränderung der Persönlichkeit in schweren Krisen bei den Angehörigen auslöst, und es überträgt sich auf den Zuschauer. Man ist zutiefst berührt. Die tragische Dimension einer seelischen Störung zeigt Ma Li, ohne zu skandalisieren.

Mehrere „Insassen“ haben eine Suchterkrankung. Sie sprechen darüber sehr offen; der internationale Drogenhandel scheint auch in China angekommen zu sein. Es geht um MDMA, Crack und Heroin. Einer hat sich Pillen, angeblich Substitute, in die Säume seiner Kleidung genäht. Er verteilt sie großzügig; die Pfleger beobachten den Vorgang (mehr oder weniger zufällig?) per Videoüberwachung. Körperlich und seelisch besonders schwer beeinträchtigt sind die alkoholabhängigen Männer. Einer wurde am Morgen entlassen, und ist schon am Abend wieder in der Zwangsgemeinschaft eingetroffen und hängt nun am Tropf.

Zum Schluss führt uns Ma Li in den Raucherraum. Es gibt keine Sitzgelegenheiten, die Männer stehen um einen großen Trog herum, der als Aschenbecher dient. Wieder werden Gedichte aufgesagt, es wird gesungen und erzählt. Sie bleibt zurück mit einem Mann, der auf dem Betonboden sitzt und aus seinem Leben erzählt. Er ist zufrieden.

Das Presseheft gibt einige Informationen. Ma Li hat erst nach jahrelangem Warten eine Drehgenehmigung erhalten. Sie hat sich drei Monate lang auf der Station aufgehalten, bis die Patienten ihre Präsenz akzeptiert haben. Dann hat sie über ein Jahr lang gedreht. Es gebe durchaus therapeutische Angebote, sie habe aber darauf verzichtet, diese zu zeigen, wie auch die Mahlzeiten. Sie habe sich ganz auf das das Krankenzimmer und seine „Insassen“ konzentriert.

„Qiu“ gewährt einen beispiellosen und doch beispielhaften Blick in das Innere einer modernen Anstalt. In vielen Ländern wird es ähnlich aussehen, in manchen Ländern der 3.Welt sind zumindest die äußeren Umstände vermutlich weitaus desolater. Uns wird keine exotische, schockierende Kulisse gezeigt, sondern das alltägliche Leben von Patienten eines psychiatrischen Krankenhauses. Vielleicht bin ich ein wenig abgebrüht? Das zeigen mir die wenigen Reaktionen in der Presse. Wer weniger vertraut ist mit der Materie ist eben doch schockiert und abgestoßen, spricht von „jovialer Folter“ und der „falschen Freundlichkeit“ der Krankenpfleger.

Ich finde, es ist ein kulturelles und psychiatrisches Armutszeugnis, dass es eine vergleichbare Langzeitbeobachtung im europäischen Film nicht gibt. Zumindest ist mir keine bekannt. Vermutlich verhindert inzwischen der Datenschutz eine vergleichbare Arbeit; der Bericht des Filmemachers Constantin Wulff („Wie die anderen“) über Dreharbeiten in der Kinder-und Jugendpsychiatrie weist darauf hin. Vielleicht wäre es vor zwanzig Jahren noch möglich gewesen? Ich kenne keine vergleichbare dokumentarische Arbeit aus dem Innersten des therapeutischen Gewahrsams. Es war höchste Zeit für „Qiu“.

Es gibt bisher keine Informationen, wie dieser Film zu beziehen wäre.

Ilse Eichenbrenner

Letzte Aktualisierung: 25.09.2022