Am 7. Juni hat ein ganz besonderer Dokumentarfilm seine Premiere in den deutschen Kinos. In einigen Städten wird im Anschluss an die Vorstellung zu einem Fachgespräch eingeladen (siehe unten). Constantin Wulff hat im Direct-Cinema-Modus gedreht, das bedeutet: Keine Inszenierung, keine Kommentare, keine Interviews, keine Musik, keine Stimmen aus dem Off, sondern nur alltägliche Arbeitsabläufe in der Kinder-und Jugendpsychiatrie der österreichischen Stadt Tulln.
Wir erleben Teamsitzungen, Übergaben, das Diktieren und Schreiben der Dokumentationen am PC und Elterngespräche. Kinder und Jugendliche werden aufgenommen, entlassen und wieder aufgenommen. Manchmal wird es laut auf dem Flur, und starke Männer werden gebraucht, so dass bei aller therapeutischen Behutsamkeit immer ein Hauch von Angst und Gewalt zu spüren ist.
Lediglich indirekt, über die Videoüberwachung, ist die Fixierung eines suizidalen Mädchens zu sehen; alle sind bedrückt, alltäglich scheint diese Szene nicht zu sein. Mehrfach begegnen wir einer 19jährigen; mal ist sie blond, dann sind die Haare schwarz, dann rot. Ihre Arme sind übersät mit Narben. Der behandelnde Arzt nimmt ihr Blut ab; Wochen und Monate später versucht er mit ihr zu verhandeln, Absprachen zu treffen, einen Kompromiss zwischen Fürsorge und Selbstbestimmung zu finden. Diese Gespräche sind zäh und fordern die Geduld aller Beteiligten, auch die des Zuschauers.
Viele dieser kleinen Szenen sind wenig spektakulär, andere gehen unter die Haut. Dominik kriecht und schreit auf dem Flur, und will einfach nicht in das Schulzimmer. Später spricht er dann doch ein wenig, und wünscht sich zur Entlassung einen Schoko-Kuchen. Medikamente spielen eine unerwartet große Rolle, werden häufig diskutiert. Dann wieder spielen und musizieren die Therapeutinnen äußerst einfühlsam mit ihren scheuen Patienten.
Konflikte sind verdächtig selten, doch dann gerät eine kleine Personalversammlung fast aus dem Ruder. Die Therapeuten sind überlastet, Stellen können nicht besetzt werden, das Team ist am Ende. Primar Paulus Hochgatterer wird unter Druck gesetzt, verteidigt sich, wird heftig. Die nüchterne Beobachtung dieser Szene gehört zu den Höhepunkten des Films, eben weil hier nicht das Revoltieren in Pubertät und Adoleszenz gezeigt wird, sondern im banalen Stationsalltag. Es ist eben nicht das besondere, das diese Dokumentation auszeichnet, sondern das Exemplarische.
Weshalb sollte man sich „Wie die anderen“ anschauen? Um zu sehen, wie respektvoll Kindern und Jugendlichen in der noch immer exkludierten Psychiatrie begegnet wird. Um zu sehen, wie schwierig diese Arbeit ist, wie viel Geduld und Kraft sie erfordert. Und ganz besonders: Um die eigene Tätigkeit in der Kinder-und Jugendpsychiatrie einmal ganz neu reflektieren zu können. Deshalb sei dieser Film psychiatrisch Tätigen tatsächlich ans Herz gelegt.
Ilse Eichenbrenner
Letzte Aktualisierung: 12.06.2024