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Psychiatrie Verlag

Der Nachtmahr

Ein seltsames Wesen huschte im Juni kurz über die Seiten der Filmkritik, wurde heftig bestaunt, tauchte in wenigen Kinos auf und war „Huch!“ schon wieder verschwunden.

Dabei ist der deutsche Spielfilm „Der Nachtmahr“ so laut und seine Stroboskoplampen flackern so heftig, dass eine Warnung für Anfallsgefährdete vorgeschaltet ist. Die Beats bringen die Kinobestuhlung zum Vibrieren. Gemeinsam mit Tina zieht man durch die Clubs, aber vor allem die Partykeller der besseren Kreise, durch die Freiluftfeten am Rande der Schwimmbäder oder im Park des elterlichen Landhauses. Wer legt auf?

Tina lebt in einem guten, aufgeklärten Elternhaus und steht kurz vor dem Abitur. Mama und Papa sind besorgt, vor allem weil Tina nächtliche Ängste entwickelt. War da nicht was unter dem Bett? Sie kreischt, kriegt sich nicht mehr ein. Sie sieht immer wieder ein Gespenst, oder besser gesagt, ein kleines Vieh. Sie erschrickt jedes Mal heftig, und der Zuschauer mit ihr. Mama begleitet sie zum Psychiater, der ihr Pillen verordnet und empfiehlt, Kontakt zu dem Wesen aufzunehmen. Tina entdeckt das Vieh vor dem Kühlschrank, wo es knuspert und schluckt und gurrt und schmatzt und alles herausgerissen hat. Das Wesen bietet Tina ein Ei an, aber sie meint, von Eiern bekomme sie doch Pickel.

Am nächsten Morgen hat sie Pickel. Sie tanzt und kifft und schluckt weiter, lädt wie die anderen Mädchen schaurige Bilder und Clips auf ihr Handy. Mißgestaltete Embryos in Einmachgläsern, die man auf das Porträt einer verhassten Rivalin montieren kann - Zwitterwesen. Tina lebt also ihr Partyleben mit Drogen weiter, doch immer häufiger kommt es zu Kontakten mit dem Vieh. Allmählich kann man es gemeinsam mit Tina in aller Ruhe betrachten: Die bläulich schimmernde Haut, den verkrümmten Rücken, die sehr langen dürren Finger, mit denen es Tina berühren will.

Einmal entdeckt das Vieh den Rasierer auf dem Rand der Badewanne und fährt sich damit neugierig über die Zunge. Beide Zungen, die des Nachtmahrs und Tinas bluten heftig. Manchmal liegt der Nachmahr einfach in Tinas Zimmer herum, gurrt und knuspert und kramt herum, während Tina gelangweilt in die Glotze starrt. Sicherheitsdienste werden gerufen, Polizisten und Sanitäter und ziehen ratlos wieder von dannen. Tina fängt an, gemeinsame Sache mit dem Nachtmahr zu machen.

O.K. Das ist erstmal genug. Man kann die Geschichte eigenhändig weiter spinnen, oder ein Kino suchen, in dem der Film doch noch läuft. Eine DVD ist zu erwarten. Die Story ist bis in kleinste Detail raffiniert ausgeheckt und inszeniert und technisch brilliant umgesetzt. Es ist ein insgesamt langatmiger Film, der peu a peu zum Horrorfilm wird, ohne dabei blutrünstig auf billige Effekte zu schielen. Er erzeugt im Betrachter eine wohlige Mischung aus Panik und Euphorie. Wer mag kann ein wenig analysieren und psychodynamische Purzelbäume schlagen. Ist der kleine blaugraue Kobold mit seinen Tina nicht ganz unähnlichen Augen die Externalisierung des rebellischen oder bedürftigen Teils von Tina, oder einfach ihr „inneres Kind“?

Mich hat der zusammen gekauerte, ein wenig schrullige Nachtmahr in jeder Szene von neuem an das Kinderlied vom buckligen Männlein erinnert. „Will ich in mein Küchel gehn, will mein Süpplein kochen, steht ein bucklig Männlein da, hat mein Töpflein brochen.“

Nachtmahr, Kobold, Alien E.T. oder Gnom – auf jeden Fall ein Archetyp hat sich in den Partykeller unseres Nachwuchses geschlichen.

Ilse Eichenbrenner

Letzte Aktualisierung: 11.04.2017