Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
Dachverband Gemeindepsychiatrie
Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen
Psychiatrie Verlag

Annäherung ohne jegliche Skandalisierung

Kennen Sie in Ihrem Umfeld Menschen, die sich wiederholt selbst verletzen? Kennen Sie die Hilflosigkeit, die sich nach einem solchen Verhalten zeigt? Selbstverletzendes Verhalten von Menschen wirft Fragen auf und stellt »für die Betroffenen und deren Angehörige (...) eine große Belastung dar« (S. 7).

Ein Buch, dass sich der Ohnmacht gegenüber dem scheinbar nicht nachvollziehbaren Verhalten annimmt, ist der »Ratgeber Selbstverletzendes Verhalten«. Die Psychotherapeut:innen Johanna Hepp und Christian Stiglmayr sowie der psychosomatische Mediziner Christian Schmahl geben Betroffenen sowie An- und Zugehörigen hier einen Ratgeber an die Hand, der vieles verständlich macht. Zwar bleibt der Graben zwischen dem emotionalen Erleben eines solchen Geschehens und dem mehr als schwierigen rationalen Verstehen des Erlebten letztendlich vorhanden, entscheidend ist jedoch, dass die Annäherung an das Phänomen gelingt.

Anfänglich stellen die Autor:innen die Frage in den Fokus, was eine nicht suizidale Selbstverletzung eigentlich ist. Erste Hürden beim Nachvollziehen eines solchen Verhaltens werden offensichtlich: »Ist ein einzelner, sehr tiefer Schnitt schwerwiegender als zehn oberflächliche Schnitte?« (S. 11) Sie deuten auch an, dass die Körperstelle, die verletzt wird, »Hinweise auf die Schwere geben kann« (S. 11). Auf diese Weise werden Verunsicherungen gegenüber selbstverletzendem Verhalten reduziert.

Der Weg der Auseinandersetzung führt weiter zu der Frage: »Wie entsteht nichtsuizidales selbstverletzendes Verhalten und warum geht es nicht von allein weg?«. In diesem Kontext orientieren sich Hepp, Schmahl und Stiglmayer am »Nutzen-und-Barrieren-Modell« von Jill Hooley und Joseph Franklin. »Das Modell erklärt, welche Barrieren Menschen normalerweise davon abhalten, sich selbst zu verletzen, und wie diese Barrieren kaputtgehen können.« (S. 28) Für Betroffene und Angehörige ist vor allem das Kapitel ein Gewinn, in dem es um Faktoren geht, die nicht suizidales selbstverletzendes Verhalten belohnend machen. Möglichkeiten der Gefühlsregulation, Stärkung der Zugehörigkeit zu einer Peergroup und der Drang, sich selbst zu bestrafen, sind Motive, die erläutert werden.

Angehörige bekommen Handwerkszeug an die Hand, wie sie vermeiden können, das Verhalten zu verstärken. Positive Zuwendung zum Beispiel sollte nicht nur nach selbstverletzendem Verhalten erfolgen. Zudem werden sie ermutigt, sich selbst mit der Frage zu konfrontieren, »ob ihre Anforderungen an die betroffene Person realistisch und angemessen sind« oder ob diese gegebenenfalls angepasst werden müssen (S. 45). Hepp, Schmahl und Stiglmayer warnen im Ratgeber, bei Komorbiditäten möglicherweise den Schwerpunkt erst auf die andere Erkrankung zu legen, um anschließend gelingender das selbstverletzende Verhalten reduzieren zu können.

Der »Ratgeber Selbstverletzendes Verhalten« nähert sich dem Phänomen empathisch und hinsichtlich der Bewältigung zielorientiert an. Das Buch vermeidet jede Skandalisierung und holt die Betroffenen sowie die Angehörigen immer wieder auf den sprichwörtlichen Boden der Tatsachen zurück. Eine hilfreiche Handreichung.

Christoph Müller in Psychosoziale Umschau

Letzte Aktualisierung: 12.04.2024