Ein Buch über das Betreute Wohnen ist nicht gerade das, was mich zum Lesen gereizt hätte. Persönlich habe ich keine Erfahrungen damit und was andere Angehörige darüber berichten, klingt in der Regel nach 08/15-Betreuung: Die Wohnung wird besorgt, gewisse Formalitäten werden geregelt, Beschäftigungsangebote empfohlen und dann, wenn alles gut läuft, ein Besuch des Bezugsbetreuers pro Woche. Die Angehörigen übernehmen es wohl oder übel, die Wohnung in einem bewohnbaren Zustand zu halten, ihr Familienmitglied zu Ärzten und Ämtern zu begleiten oder im Notfall, besonders auch nachts, in die Wohnung zu fahren und das Nötige zu veranlassen.
Aber eine Freundin war von diesem Buch für Berufsanfänger aus der Reihe Basiswissen begeistert und hat es mir geschenkt. Da war ich dann doch neugierig. Das Inhaltsverzeichnis verspricht eine sehr gründliche Information für alle, die im Betreuten Wohnen arbeiten wollen, und die klare Gliederung der Aufgabenbereiche und die zusammenfassenden Merksätze erleichtern den Überblick über das Sachgebiet. Das Buch bietet jedoch weitaus mehr als gründliche Information über Theorie und Praxis des Betreuten Wohnens. In jedem Kapitel gibt es zahlreiche Empfehlungen und Beispiele, wie man durch einen fantasievollen und flexiblen Umgang mit dem weitverbreiteten Betreuungsmodell neuen Erkenntnissen und ganz individuellen Bedürfnissen zugleich gerecht werden kann. Dadurch werden Berufsanfänger von Anfang an in die ständige Weiterentwicklung ihres Berufsfelds einbezogen und zu eigenem Weiterdenken angeregt.
Gerade dieser Aspekt ist für interessierte Angehörige und Psychiatrieerfahrene interessant. Sie erfahren, was alles beim Betreuten Wohnen möglich sein kann und können es einfordern. Und gleichzeitig wird durch die klare Aufgabenbeschreibung verhindert, dass Ansprüche gestellt werden, die nicht zu dem Aufgabenbereich gehören.
Besonders interessant finde ich persönlich alles, was im weitesten Sinn zum Thema Wohnen gesagt wird. Es belegt, dass das Ziel der Anhänger eines Gemeindepsychiatrischen Verbundes verwirklicht werden kann, dass praktisch jeder psychisch kranke Bürger in seiner Heimatgemeinde wohnortnah versorgt werden kann, wenn man bei der Hilfeplanung die individuellen Bedürfnisse berücksichtigt. Verlegungen in wohnortferne Heime sind vermeidbar. Allerdings glaube ich nicht, dass selbstbestimmtes Wohnen nur in einer eigenen Wohnung stattfinden kann. Es gibt kontaktarme Menschen, die allein in einer Wohnung völlig vereinsamen würden. Für diese ist auch nicht immer die als Alternative vorgeschlagene Wohngruppe das Richtige, denn dort erträgt nicht jeder das enge Zusammenleben mit anderen Menschen.
Wir Angehörige wünschen uns daher für diese Gruppe kommunale Kleinheime, die das richtige Maß an Kontakt mit anderen Menschen und die nötige Distanz gewährleisten. In diesen Heimen für schwierigere Personen sollte es eine 24-Stunden-Betreuung geben, damit jederzeit ein verlässlicher Ansprechpartner erreichbar ist. Alle anderen Hilfeleistungen, wie z.B. eine Tagestruktur, könnten außerhalb des Hauses erbracht werden. Auch das wäre in unseren Augen ein selbstbestimmtes Wohnen.
Edith Mayer in Psychosoziale Umschau
Letzte Aktualisierung: 12.04.2024