"Versammlungen, zu denen Patienten und Familien eingeladen werden, gehören heute in Finnland zum Behandlungsstandard." Ein entscheidender Ausgangspunkt dieser Entwicklung waren die positiven Erfahrungen, die Y. Alanen und sein Team mit ihrem gemeindepsychiatrischen Schizophrenieprojekt in Turku, Finnland, seit 1970 gesammelt haben. Anfang der 80er Jahre wurde dieser Therapieansatz in sechs Verwaltungsbezirken als Reform- und Forschungsprogramm des Nationalen Finnischen Schizophrenieprojektes (NSP) für ersterkrankte schizophrene Menschen eingeführt.
Die meisten der 16 Aufsätze des o.g. Buches beziehen sich auf die Situation in Finnland und werden ergänzt durch Berichte aus dem schwedischen "Parachute (Fallschirm)-Projekt", welches mit nahezu identischen Therapieprinzipien arbeitet und seit 1996 als multizentrische Studie an 17 Kliniken durchgeführt wird.
Unter dem Oberbegriff des "Need-adapted-treatment" (bedürfnisangepasste Behandlung) wird in Übersichtsform, mikroskopischen Beschreibungen und Therapiebeispielen dargestellt, wie die verschiedenen Komponenten in einem flexiblen Therapieangebot ausgestaltet und integriert werden: Familien- und Systemische Therapie vom Erstkontakt an, Betreuungskontinuität in den verschiedenen Phasen der Behandlung, psychodynamische Einzeltherapie, Niedrigschwelligkeit der Behandlung, geringe bzw. keine Medikamentengaben.
Mit dem Ziel, die Handlungsautonomie von Patientinnen und Patienten in jeder Phase ihres Therapieprozesses zu stärken, arbeiten sog. Psychoseteams vorwiegend ambulant und organisieren je nach Befinden der oder des Betroffenen sog. Therapieversammlungen, an denen wichtige soziale Bezugspersonen, z.B. auch Nachbarn, teilnehmen und die in Krisenzeiten täglich stattfinden.
Häufig hervorgehoben wird eine psychotherapeutische Grundhaltung, die Bedeutung selbst-erzählender Sprache psychotischer Menschen und des Dialogs als wichtigstem therapeutischen Werkzeug: "Therapeuten versuchen heute nicht länger, durch Fragen oder Interventionen den Dialog zu kontrollieren. Vielmehr passen sie sich den Äußerungen ihrer Klienten fortwährend an, indem sie den Dialog aufrechterhalten, da der Dialog selbst neues Verständnis erzeugt. (…) Das therapeutische Fachwissen sollte hauptsächlich darin bestehen, wie man den Dialog in Gang bringt."
Die Beispiele sind sehr anschaulich und instruktiv. Die Vision einer umfassenden individuellen Hilfe vor Ort wird mit Leben erfüllt. Das Buch enthält weiterhin ausführliche Studienergebnisse (durchweg positiv) sowie Stellungnahmen deutscher Sozialpsychiater zur therapeutischen Wertigkeit der Projekte (größtenteils positiv) und möglichen Übertragbarkeit auf hiesige Bedingungen (vorsichtig positiv).
Eher formale Aspekte, welche die Bedeutung des Buches nicht schmälern, könnten verbessert werden: Der Titel des Buches versteht das Wort "Psyche" wohl in einem sehr umfassenden Sinne. Er könnte bei denjenigen zu Missverständnissen führen, die bei dem Wort "Psychotherapie" zuerst an die klassische 1:1-Therapiesituation denken, welche in den Aufsätzen des Buches jedoch verhältnismäßig wenig Raum einnimmt.
Das Einstiegskapitel über ätiologische Grundlagen, biologische Faktoren und Adoptionsstudien geht nur in Ansätzen auf das Neue aus Skandinavien ein und könnte auch an anderer Stelle des Buches platziert werden.
In einzelnen Aufsätzen fehlen konkrete Angaben über Personalschlüssel, Arbeitszeiten und Arbeitsorganisation. Dies wäre hilfreich für Übertragungen ins deutsche System.
Die Aufmachung des Buches, Größe und Layout sind ansprechend, das Literaturverzeichnis ist sehr umfangreich.
Fazit: Ein wichtiges, informatives Buch um andere als deutsche Versorgungsstrukturen kennenzulernen und neue Impulse für eine personenzentrierte und ambulante Form der Akuttherapie zu erhalten. Der Blick nach Norden lohnt sich, denn nicht nur die Schülerinnen und Schüler (PISA-Studie) profitieren von einer sozialen Orientierung in (Klein-)Gruppen.
Ingo Runte in Psychosoziale Umschau
Letzte Aktualisierung: 17.04.2024