Schon wieder ein Anglizismus. Nach Empowerment, Need-adapted Treatment und Community Care verärgert nun dieser englische Begriff (Erholung, Besserung, Genesung, Gesundung, Bergung, Rettung, Rückgewinnung ...) die psychiatrische Leserschaft.
Die Autorinnen Amering und Schmolke holen den Leser an genau dieser Position mit der Seite elf ihres Textes ab und hoffen damit, dass das Buch immerhin gekauft und zur Hand genommen wurde. Doch ich fürchte, viele potenzielle Käufer werden bereits an dieser Hürde scheitern, das Buch („Noch so ’n amerikanischer Quatsch“) im Regal stehen lassen – und das ist sehr, sehr schade.
Um es vorwegzusagen: Mit diesem Buch und seiner Aufforderung, die Genesung und Gesundung unserer Klienten anzupeilen, ist den Autorinnen ein grandioser Brückenschlag gelungen. Streng separierte sich bisher die Welt der seriösen, evidenzbasierten medizinisch-biologisch fundierten Standardwerke von der der bunten Ratgeber und Publikationen und Selbsterfahrungsberichten der trialogisch-gemeindepsychiatrischen Komplementärliteratur. Es gab einige Überläufer, Thomas Bock mit „Lichtjahre“ an vorderster Front, aber auch Asmus Finzens Bücher wären hier beispielhaft zu nennen.
Mehr als kühn aus meiner Sicht ist der hier vorliegende Spagat, der Seitenwechsel, der Übersprung innerhalb ein und desselben Werkes. Michaela Amering und Margit Schmolke hoffen auf den psychiatrisch interessierten, vielleicht sogar professionellen Leser und ködern ihn, den Forschungsgläubigen, mit einer fast unglaublichen Fülle von Informationen zum Verlauf der Schizophrenie. Welche Einstellungen, Missverständnisse, Vorurteile waren oder sind aktuell? Handelt es sich um eine Diagnose oder ein Urteil?
An einem kleinen Beispiel sei die hervorragende Lesbarkeit auch dieser eher trockenen Materie beschrieben: Luc Ciompi wird zitiert, der sich bei einem ersten Vortrag zum Thema „Recovery“ darüber aufregte, dass der Paradigmenwechsel einer von ihm bereits seit dreißig Jahren geforderten Abkehr von der negativen Prognose noch immer nicht stattgefunden habe. Wissenschaftliche Studien werden mit akribischen Quellenangaben zitiert und immer wieder illustriert mit persönlichen Beobachtungen oder Fallvignetten; besonders gelungen ist ein Kapitel, das sich unter der Überschrift „Klassische Denktraditionen“ mit Krankheitseinsicht und Compliance beschäftigt.
Wie wurden und werden die Patienten behandelt, welche neuen Methoden gibt es? Auch die Sozialarbeit mit ihren neuen, lebensfeldorientierten und personenzentrierten Ansätzen wird hier ausführlich genannt und fühlt sich folgerichtig angesprochen. Von den Profis wandert der Blick zunächst nur hin und wieder, dann immer ausdrücklicher zu den Patienten, Bürgern, Nutzern, Psychiatrie-Erfahrenen. Wie kann die Stigmatisierung überwunden werden? Das Urteil über die Antistigmakampagne der letzten Jahre fällt vernichtend aus.
Das Recovery-Konzept mit seinem wichtigen Faktor Resilienz wird nun besonders ausführlich beschrieben, insgesamt sieben internationale Protagonistinnen und Protagonisten der Recovery-Bewegung werden ausführlich vorgestellt, und das Konzept erhält damit ein Gesicht, viele Gesichter. Bleibt zu erwähnen, dass Recovery in all seinen Facetten nun auch noch unter unterschiedlichsten Aspekten eingeordnet, bewertet und kommentiert wird. Es ist schlicht unmöglich, im Rahmen einer Rezension die Fülle der zusammengetragenen Informationen und Aussagen zusammenzufassen.
Das Buch ist äußerst übersichtlich gegliedert; die Schrift ist klein und dicht, nach einem ersten Erschrecken ist der Text aber wider Erwarten ausgezeichnet lesbar. Es ist durchweg wunderbar flüssig geschrieben; an keiner Stelle macht sich die geteilte Autorenschaft in Stilwechseln oder Brüchen bemerkbar. Auch scheinbar hochwissenschaftliche Informationen werden dem Leser gut verständlich erklärt.
Das hohe Engagement ist in fast jeder Zeile spürbar, ohne dass Michaela Amering und Margit Schmolke sich kumpelhaft anbiedern oder grob agitieren würden. Die neue Perspektive haben uns Bock, Aderhold, Knuf und Milzner bereits vermittelt; „Recovery“ gelingt es, den Bogen zur seriösen, klassischen, orthodoxen, klinischen oder was auch immer Psychiatrie zu schlagen und diesem neuen Hoffnungsträger der Psychiatrie-Erfahrenen-Bewegung den Stempel „klinisch getestet“ zu verpassen.
Dies wird eines jener Bücher sein, die der psychiatrisch Tätige gelesen haben muss, vor allem jeder, der tagtäglich (wie ich) den beschriebenen Spagat aushalten muss. Man kann es natürlich auch höher hängen, und die folgende Bewertung stammt definitiv nicht von mir: „Dies ist die Zukunft der Psychiatrie“ jauchzte ein sonst eher versorgungstechnisch interessierter Projektleiter (Christian Reumschüssel-Wienert) nach der Lektüre. Wir werden sie nicht mehr erleben.
Ilse Eichenbrenner in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 17.04.2024