Eigensinn – der Duden definiert ihn als »hartnäckiges Beharren auf einer Meinung, Absicht etc.«. Als assoziierte Begriffe werden u. a. genannt: Einsichtslosigkeit, Störrischkeit, Trotz, Unbelehrbarkeit, Unnachgiebigkeit, Dickköpfigkeit, Borniertheit, Halsstarrigkeit, Verstocktheit, Querköpfigkeit, Verbohrtheit, Sturheit. In der Summe also ein durchweg negatives Image für den Eigensinn.
Dagegen wird der Begriff Eigensinn im psychiatrischen Kontext zunehmend zur Beschreibung von Menschen verwandt, die zwar aus Sicht des Beobachtenden »störrisch«, »trotzig« und »borniert« sind, die aus subjektiver Sicht aber ihren ganz eigenen Weg gehen. Menschen also, die den professionellen Helferinnen und Helfern das Leben schwer machen, was man ihnen dann gerne zum Vorwurf macht, wofür man sie negativ etikettiert und ausschließlich pathologisch betrachtet.
Das Buch von Jo Becker und Daniela Schlutz hat es geschafft, diesen Menschen Respekt zu zollen und ihnen eine Bühne zu geben. Auf 180 Seiten werden insgesamt zwanzig eigensinnige Menschen porträtiert. Menschen mit Schizophrenien, affektiven Psychosen, Substanzabhängigkeiten, Persönlichkeitsstörungen, Angststörungen, Depressionen oder Syndromen nach schweren Schädel-Hirn-Traumata. Autor und Autorin haben bewusst und in Absprache mit den Porträtierten die ICD-10-Diagnosen der Expertinnen und Experten für Eigensinn mit aufgeführt, da sie zwar »das Risiko bergen, zu vereinfachen und zu stigmatisieren«, sie andererseits aber »eine wichtige Orientierung für eine fachgerechte Behandlung und Rehabilitation« darstellen und nicht zuletzt eine Voraussetzung sind, um »Leistungen der unterschiedlichen Hilfesysteme zu erlangen«, wie es im Vorwort heißt.
Der Aufbau der Porträts ist weitgehend gleich: eine Kurzvorstellung inklusive der Diagnose, eine Selbstdarstellung der Expertin bzw. des Experten, eine Stellungnahme eines Professionellen und schließlich eine vertraute Person aus dem Leben der Expertin bzw. des Experten. Dies kann eine Freundin oder ein Freund sein oder auch eine Verwandte, etwa die Schwester. Alle Porträtierten, ihre nahen Bezugspersonen und die Professionellen waren zuvor in offenen unstrukturierten Interviews befragt worden. Der jeweils dreiteilige Aufbau vermittelt ein durchaus differenziertes Bild der Person und der begleitenden Umstände. Nicht immer deckungsgleich, damit aber realistisch.
Im zweiten, deutlich kürzeren Teil des Buches werden wesentliche Methoden der Zusammenarbeit mit »Experten für Eigensinn« vertieft. Hier geht es um den Trialog und das Networking im Sozialraum, vor allem aber um Aspekte der Begegnung: Empathie, Wertschätzung, Geduld, Zuversicht, Biografiearbeit und Selbstachtsamkeit der Professionellen. Plattitüden, könnte man meinen, Altbekanntes, Abgedroschenes. Sicherlich, aber wer jemals selbst oder als Angehöriger mit dem psychiatrischen Versorgungsalltag konfrontiert wurde, der weiß, dass die Qualität der Versorgung genau an diesen Stellen mangelhaft, teilweise erschütternd schlecht ist.
Es ist eben nicht selbstverständlich, dass sich Professionelle wirklich für den einzelnen Menschen interessieren und sich neugierig zuwenden, fürsorglich sind und sich dennoch respektvoll abgrenzen können. Hier gebührt Jo Becker und Daniela Schlutz ein großer Dank, dass sie uns daran erinnern, was wir Menschen wollen, wenn wir auf Unterstützung angewiesen sind, sei es in stationären oder ambulanten Settings, in psychiatrischen oder somatischen Kontexten: fachliche Expertise, würdevollen Umgang, Anerkennung der Individualität und Stärkung der Eigenverantwortung.
»Experten für Eigensinn« fordern uns heraus. Sie haben es verdient, dass wir uns mit allen Kräften dafür einsetzen, ihnen »Teilhabe zu ermöglichen«, wie es auf BTHG-deutsch heißt. »Experten für Eigensinn« führen uns vor Augen, dass »qualifizierte Assistenz« konsequent personenorientiert ist. Es geht um individuelle Lebenswege. Nicht jede Wendung im Leben war selbst gewählt, nicht jede Entwicklung war aus Sicht der Betroffenen eine positive, aber wer von uns kann das über sein eigenes Leben schon sagen? Es geht auch um individuell zugeschnittene Unterstützungskonzepte. In letzter Konsequenz – und auch das erleben wir tagtäglich – geht es darum, diesen Menschen auch dann Respekt zu zollen, wenn sie all unsere wohlgemeinte Unterstützung und Fürsorge nicht wollen.
»Experten für Eigensinn« lehren uns, dass es im Leben nicht nur stetig geradeaus geht, sondern vor und zurück, links und rechts. Oder wie sagte John Lennon einst: »Leben ist das, was passiert, während du eifrig andere Pläne schmiedest.« Sie lehren uns außerdem, dass es nach Tiefschlägen auch wieder aufwärts gehen kann. Dass man wichtige Menschen mal verlieren kann, dass man mit viel Mühe und etwas Glück sie aber auch wieder zurückgewinnen kann.
Jo Becker und Daniela Schlutz plädieren eindringlich dafür, den Menschen als einmaliges, unverwechselbares Geschöpf zu achten und seine Einmaligkeit neugierig zu erkunden. Die zwanzig Porträts, die sie hier zusammengetragen haben, machen Lust auf diese Entdeckungsreise.
Georg Kremer in Psychosoziale Umschau
Letzte Aktualisierung: 17.04.2024