"Eine recovery-orientierte Psychiatrie in den deutschsprachigen Ländern ist keine Utopie mehr", stellen die Herausgeber des Buches "Recovery in der Praxis" fest. Recovery, davon haben wohl die meisten schon gehört, die mit psychiatrischer Versorgung zu tun haben. War das nicht der zu befürchtende Einbezug von Betroffenen bis zur Bedrohung etablierter Strukturen? Oder einfach die Zusammenfassung für eine als selbstverständlich angenommene Praxis der Nutzerbeteiligung in psychiatrischen Arbeitsfeldern?
"Am Anfang hatten sie (die Teammitglieder) das Gefühl, Recovery bedeutet absolute Freiheit. Dass Patienten sagen, wo es langgeht, so ein bisschen Anarchie", beschreibt eine Nutzerin eines recovery-orientierten Projektes der psychiatrischen Station Lüthi in der Schweiz und resümiert: "Aber das ist ja gar nicht so. Im Gegenteil: Eigentlich total bodenständig. Dann waren sie manchmal überrascht. Vor allem am Anfang. Mittlerweile ist es auch anders, denke ich."
Überraschend ist auch die Vielfältigkeit, in der sich die Umsetzung von Recovery in den beschriebenen Praxisprojekten findet. Nicht als Methode kommt Recovery daher. Als Haltung bzw. Perspektive definieren Wiedl, Waldorf und Kauffeldt es in der Darstellung ihres recovery-orientierten Seminar-Programms für Psychoseerkrankte. Ebenfalls ein spannendes, von Therapeuten initiiertes Modell ist der Einsatz von Recovery-Trainern im Rahmen psychiatrischer Rehabilitation in New York. Medalia stellt als Ziel der Intervention die Übertragung trainierter Fähigkeiten vom stationären Kontext in den Alltag der Patienten heraus.
Neben diesen Konzepten finden sich im Buch Beschreibungen weiterer interessanter Praxisprojekte, wie recovery-orientierte Ausbildungsmöglichkeiten für Betroffene, aber auch Fachleute. Veränderungsvoraussetzungen für die Arbeit unter Recovery-Gesichtspunkten werden diskutiert, Erfahrungen und Evaluationen vorgestellt. Neben Fachleuten kommen auch Angehörige und Betroffene zu Wort.
Spätestens bei den Ausführungen der Herausgeber zur Differenzierung zwischen dem symptomfokussierten medizinischen Ansatz und dem personenorientierten Ansatz von Recovery in der Fachliteratur wird klar, es muss sehr genau beschrieben werden, was der Einzelne mit dem Begriff überhaupt verbindet. Das Ziel, einen Zustand wie vor der Erkrankung wiederherstellen zu wollen, unterscheidet sich stark von dem, die Entwicklung persönlicher Bewältigungsstrategien als Fokus zu setzen.
Recovery ist also mehr als Nutzerbeteiligung und es lohnt sich, wie Schulz und Prins über ihre Erfahrungen in Bielefeld schreiben, die aktuelle Situation der eigenen Arbeit zu analysieren und als Ausgangsbasis für weitere Überlegungen zu nutzen. Wenn Hoffnung zum Fundament der Arbeitsweise werden kann, ist damit wie Deegan schreibt, eine menschlichere Umgebung durch geteilte Entscheidungsfindungen für Betroffene, Angehörige und Fachleute geschaffen.
Das Buch enthält breite Informationen zu Recovery und ermöglicht einen sehr guten Überblick über den aktuellen Stand der Entwicklungen. Es ist dem Buch zu wünschen, dass es auch in die Hände von Entscheidungsträgern gerät. Lesenswert ist es für Fachleute, Angehörige und Betroffene gleichermaßen. Schade ist, dass es in dieser Publikation fast ausschließlich um Möglichkeiten für Menschen mit Psychoseerkrankungen geht. In der weiteren Diskussion über Recovery wird es wichtig sein, auch andere Patientengruppen und ihre Unterstützer einzubeziehen und zu Wort kommen zu lassen.
Christiane Tilly in Psychosoziale Umschau
Letzte Aktualisierung: 17.04.2024