Lange nach Klaus Dörners Erstlingswerk »Bürger und Irre« (1969) nimmt Matthias Heißler ebenfalls den Bürger nicht nur in den Blick, sondern spricht ihn unmittelbar an, baut um dessen Zuhause das psychiatrische Behandlungs- und Hilfesystem neu auf. Wie er das macht, welche Chancen für Menschen mit psychischen Krisen daraus entstehen, das lässt sich bei ihm auf wunderbare Weise nachlesen und verstehen.
Einleitend macht Matthias Heißler an vier zentralen Punkten fest, warum wir eine neue Psychiatrie brauchen, eine sozialökologische Orientierung als Bedingung für eine Behandlung zu Hause. Die aufsuchende Behandlung bildet den Basisbaustein, um wegzukommen von zu vielen Klinikbetten, weg von psychiatrischen Diagnosen, die mehr versprechen als sie halten, weg von der Überschätzung der Psychopharmaka und hin zu mobilen Krisenteams und aufsuchender Behandlung.
In den insgesamt zwölf Kapiteln werden Mosaiksteine wie Sozialraumorientierung, Hometreatment, die Nutzung von Krisen, Gemeinwesenarbeit, aber auch die Organisation der Hilfen und ihre Steuerung hin zu einer Psychiatrie ganz ohne Betten zusammengesetzt. Er vereint so Krankenhauspsychiatrie und nichtklinische Gemeindepsychiatrie zu einer komplett neu geformten psychiatrischen Versorgung. Zahlreiche Fallbeispiele zeigen, dass die Praxis der Utopie ohne Betten tatsächlich in Geesthacht stattgefunden hat. Dabei vergisst Matthias Heißler nicht den therapeutisch-individuellen Bezug, sei es bei Abhängigkeit, bei Demenzen, Psychosen oder Angststörungen der Patientinnen und Patienten.
Viele der vorgestellten Mosaiksteine einer neuen Psychiatrie ohne Betten wie »Offener Dialog«, »Peers«, »Mobile Teams« sind bereits gut bekannt, aber Heißler fasst sie zu einem vollständigen Bild zusammen. Einer der schönsten Mosaiksteine trägt den Namen »Immobilientherapie«, psychiatrisch Tätige sind dann die Makler, die Vermittler.
Matthias Heißler weiß sehr genau, wovon er spricht. Er war lange Chefarzt der psychiatrischen Abteilung eines Allgemeinkrankenhauses in Geesthacht und hatte viele Jahre die Chance, das Konzept einer Psychiatrie mit drastisch reduzierten Betten umzusetzen. Dies hat ihn bundesweit bekannt gemacht. Viele, seien es Angehörige, Psychiatrieerfahrene oder beruflich Tätige, haben ihn in Geesthacht besucht. Nun kann man alles über das Geesthachter Modell in diesem Buch erfahren.
Bemerkenswert ist ebenfalls, dass der Text ausgesprochen lesefreundlich ist, also auch bürgerfreundlich und nicht nur für Eingeweihte spannend. Heißler schließt ihn mit der Aufforderung ab, man möge sich zehn grundlegende Veränderungen vorstellen (Imagine), z. B. die Zusammenführung von SGB V und SGB IX, XI und XII. Oder die Etablierung von nur wenigen psychiatrische Belegbetten im Allgemeinkrankenhaus. Diese Bilder einer anderen Psychiatrie zu diskutieren, sie praxisnah auszugestalten, das ist die Leistung dieses Buches und seines Autors.
Ihn prägt dabei der gleiche theoretische und auch philanthropische Hintergrund, der auch seinen Lehrer Klaus Dörner auszeichnet. So wundert es nicht, dass Thomas Bock im Sinne der philanthropischen Psychiatrie ein ebenfalls sehr gelungenes Vorwort verfasst. Dort fragt er aber auch, ob Heißler nicht die institutionellen, politischen und persönlichen Widerstände des Geesthachter Modells hätte mehr darstellen sollen. Mag sein, aber unbedingt richtig ist auch, die Machbarkeit des radikalen Umdenkens in den Vordergrund zu stellen. Dies war Heißlers Anliegen. Hier ist sie also, die reale Utopie.
Christian Zechert in Psychosoziale Umschau
Letzte Aktualisierung: 17.04.2024