Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
Dachverband Gemeindepsychiatrie
Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen
Psychiatrie Verlag

Psychotherapie, Depression und Emanzipation

Eine subjektwissenschaftliche Studie zur verhaltenstherapeutischen Praxis

Die Praxis der Psychotherapie ist unum­stößlich mit gesellschaftlichen Prozessen verknüpft – jedoch wird dieser Umstand oft im Diskurs vergessen. Als Institution, welche das Ziel hat, Individuen bei der indi­viduellen Bewältigung von Problemen mit Krankheitswertigkeit zu helfen, agiert sie in einem Spannungsfeld aus gesellschaftlich konstruierten Normen sowie sozial­deter­minierten Lebensbedingungen einerseits und individuell gestaltbaren Möglichkeits­räumen andererseits. Damit hat die Psycho­therapie das theoretische Potenzial, bei der Emanzipation von widrigen gesellschaft­lichen Bedingungen beizutragen.

In ihrer Dissertation »Psychotherapie, De­pression und Emanzipation« leistet Leonie Knebel Wichtiges, indem sie eben dieses Po­tenzial im Kontext depressiver Erkrankungen untersucht. Dabei gliedert sich ihre Arbeit in einen theoretischen Teil, in dem metho­dische Grundannahmen und notwendige Konzepte expliziert werden. Ergänzt durch einen empirischen Teil, bestehend aus einer qualitativen Psychotherapieprozessstudie, in der vier Therapeutinnen und sechs ihrer Patient:innen befragt wurden.

Beim Lesen wird einem schnell klar, welche sozialpsychiatrische Relevanz dieses Thema mit sich bringt, geht es dabei um nicht we­niger als die kritische Auseinandersetzung mit der gesellschaftspolitischen Funktion von Psychotherapie.

Grundlegend für die vorliegende Arbeit sind die subjektwissenschaftlichen Annahmen der kritischen Psychologie nach Holzkamp. Im Kontrast zum experimentell­statisti­schen Ansatz wird hierbei die Subjektivität explizit nicht ausgeklammert und das ob­jektiv Untersuchte unter Bezugnahme auf seine Beziehungs­, Bedeutungs­ und Be­gründungsstruktur hin geprüft. Diese Struk­turen, so wird es angenommen, bilden sich immer vor dem Hintergrund gesellschaft­licher und kontextueller Faktoren, womit der subjektwissenschaftliche Ansatz eine Methode darstellt, welche das Individuum nicht psychologisiert, sondern kontextuali­siert. Damit bietet diese Untersuchung eine interessante Abwechslung zur gängigen Mainstream­Forschung.

Der Begriff der Depression wird formal de­finiert und ebenfalls vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Bedingungen eingeord­net. Anhand der »neoliberalen Transforma­tion der Arbeits­ und Lebensweise« zeichnet Knebel ein Bild, welches den Einfluss der zunehmenden Flexibilisierung, Kommodifi­zierung und Prekarisierung der Arbeits­ und Lebenswelt auf eine etwaige Erhöhung der Prävalenzraten depressiver Erkrankungen deutlich macht. Die Skizzierung der teils widersprüchlichen Subjektanforderungen des neoliberalen Kapitalismus gepaart mit den reellen Lebensbedingungen und zusätz­lichen Diskriminierungskategorien verdeut­lichen unumgänglich den Zusammenhang zwischen Gesellschaft und Depression.

Was folgt, ist die kritische Einordnung der ge­sellschaftspolitischen Funktion der Psycho­therapie im Allgemeinen und der Verhaltens­therapie im Speziellen. Insbesondere galt und gilt die Verhaltenstherapie (VT) dabei häufig als antiemanzipatorisch, weil sie als Sozial­technologie gewünschtes Verhalten nach ge­sellschaftlichen Normen wiederherstelle und damit auch unter anderem neoliberale Funk­tionsinteressen begünstige. Knebel räumt im Zuge der Untersuchung der historischen Entwicklung der VT damit teilweise auf und kontrastiert dabei unter anderem mit den psychodynamischen Verfahren. Im Gegen­satz zu diesen werden in der VT Machtdyna­miken kritisch hinterfragt und hegemoniale Deutungshoheiten durch eine ausgeprägte Selbststeuerung des Patienten/der Patientin und einen hohen Überprüfbarkeitsanspruch ersetzt. Hauptsächlich die Konzepte der Ver­lust der Verstärkerwirksamkeit (Costello) und der gelernten Hilfslosigkeit (Seligmann), aber auch weniger depressionsspezifische Kon­zepte, wie die Akzeptanz­ und Commitment­Therapie (ACT) und die Schematherapie (ST) werden als subjektwissenschaftlich interes­sante Ansätze diskutiert und auf ihr eman­zipatorisches Potenzial hin kritisch geprüft.

Die theoretischen Grundlagen werden dann im zweiten Teil anhand der empirischen Er­gebnisse der sechs Kasuistiken verglichen. Dabei wird deutlich, dass die Therapiesit­zungen vorrangig zur Klärung des Selbst­verständnisses beitrugen, weniger als zur Edukation über gesellschaftliche Bedin­gungen. Obschon restriktive gesellschaft­liche Verhältnisse unverändert blieben, modifizierten Betroffene innerhalb der The­rapie ihre Lebens­ und Arbeitssituationen. Darauf aufbauend skizziert Knebel aus der fallübergreifenden Analyse drei Konzepte, sowie weitere Kriterien für eine emanzipa­torisch intendierte Psychotherapie.

Somit kulminiert die Arbeit in diesen drei Konzepten und Kriterien eine Antwort. Al­lein das scheint in Anbetracht der Weite des Themas beachtlich. Beachtlicher jedoch ist meines Erachtens das Forschungsvorhaben als Ganzes. Leonie Knebel füllt mit ihrer Dis­sertation »Psychotherapie, Depression und Emanzipation« gleich mehrere Forschungs­lücken, welche in der gängigen Mainstream­Forschung auch aufgrund der dahinterlie­genden Methodik viel zu kurz kommen. Zum einen ist hier die Untersuchung der Genese von Depression im Zusammenhang mit neoliberalen Gesellschaftsverhältnissen zu nennen. Zum anderen der Versuch, hier­für eine Art Lösung, in Form einer emanzi­patorischen Psychotherapie zu finden. Nicht zuletzt ist das Buch eine wichtige Ergänzung zum Diskurs der gesellschaftlichen Funkti­on von Verhaltenstherapie. Wird diese häu­fig doch als systemerhaltend, oberflächlich angesehen, zeigt sich auch ihr unumstöß­liches emanzipatorisches Potenzial.

Die Autorin weist auf einige methodische Mängel hin, welche ich ebenfalls sehe. Hier ist zum einen das Setting zu nennen. Als Therapeut:innen wurden lediglich Psycho­therapeutinnen in Ausbildung untersucht, welche zwar unter Supervision standen, je­doch noch nicht viel Erfahrung aufweisen konnten. Zudem erreicht die Arbeit keine the­oretische Sättigung und nicht alle Interviews wurden vollständig ausgewertet. Insge­samt fiel mir das Lesen in Teilen auch etwas schwer, da durch die Fülle an Themen sich in mir schnell ein Gefühl der Unübersichtlich­keit und Überwältigung breit machte.

Nichtsdestotrotz hat mich die Lektüre um viele neue Perspektiven in meinem Streben nach einer emanzipierten Gesellschaft be­reichert und ich kann die Arbeit allen nahe­legen, die sich schon einmal die Frage nach der gesellschaftspolitischen Relevanz von Verhaltenstherapie gestellt haben.

Luca­ Leander Wolz in Sozialpsychiatrische Informationen

Letzte Aktualisierung: 19.07.2024