Ist die Akutversorgung psychisch erkrankter Menschen in der häuslichen Umgebung noch eine Vision? Oder wird die Stationsäquivalente Behandlung immer häufiger Versorgungsrealität? In den Städten und Regionen können viele Zeichen des Umbruchs wahrgenommen werden. Woran die Umsetzung immer wieder hapert, ist Unsicherheit in Bezug auf die Grundlagen und Rahmenbedingungen des innovativen Versorgungsmodells.
Der Mediziner Gerhard Längle, der Pflegewissenschaftler Martin Holzke und die Sozialwissenschaftlerin Melanie Gottlob bieten in Zusammenarbeit mit psychiatrischen Praktikern mit dem Buch »Psychisch Kranke zu Hause versorgen« nun eine Orientierung an. In einem interprofessionellen Miteinander stellen sie gesetzliche Grundlagen und Vereinbarungen der Selbstverwaltung vor, ordnen die Stationsäquivalente Behandlung kritisch ein und beschreiben die Zielgruppe der Daheimversorgung.
Mit diesem Handbuch zur Stationsäquivalenten Behandlung machen die Herausgeber Ernst mit dem Ziel »ambulant vor stationär«, das seine Wurzeln in der Reformpsychiatrie der 1960er-und 1970er-Jahre hat. Dabei wäre ein Miteinander von ambulant und stationär schon ein Gewinn. Für den Kaufmann Dieter Grupp steht dem die strikte Sektorisierung des Gesundheitswesens entgegen (S. 49). Jede Tätigkeit des Krankenhauses außerhalb der ihm zugewiesenen stationären Grenzen werde als Kompetenzüberschreitung und Ressourcenverschwendung gebrandmarkt sowie juristisch und politisch bekämpft (S. 50).
Er bedauert, dass die vielfältigen Initiativen des Gesetzgebers, sektorübergreifende Behandlungsmöglichkeiten zu initiieren, mit einer Regelmäßigkeit von einer Allianz aus Krankenkassen und Verbänden des Vertragsarztsystems torpediert worden seien (S. 50). Der Gemeindepsychiater Raoul Borbé sieht nun die Stationsäquivalente Behandlung als eine Möglichkeit, die Personenzentrierung im Blick zu haben, die als Credo in der Sozialpsychiatrie gilt.
Wer die Stationsäquivalente Behandlung im eigenen Versorgungssprengel realisieren will, der findet in dem Buch von Längle, Holzke und Gottlob eine erste Orientierungshilfe. Es hat eine Fortschreibung verdient, wenn in den nächsten Jahren die unterschiedlichen Erfahrungen mit dem Gelingen und dem Scheitern der Stationsäquivalenten Behandlung gemacht werden. Dann wird es auch an der Zeit sein, dem Ganzen einen trialogischen Charakter zu geben und Angehörige und Psychiatrieerfahrene einzubeziehen.
Christoph Müller in Psychosoziale Umschau
Letzte Aktualisierung: 17.04.2024