Dass Psychotherapie mit psychoseerfahrenen Menschen praktiziert wird, ist in der Geschichte der Psychiatrie, bis auf die Vorarbeiten einiger Pioniere, noch nicht sehr lange üblich. »Es geht eben doch!«, betitelt Thomas Bock sein Geleitwort zu Friederike Schmidt-Hoffmanns Werk und wirbt: »Dieses Buch macht Mut! Es zu lesen macht Spaß.«
Die Psychotherapeutin Schmidt-Hoffmann arbeitet mit psychoseerfahrenen Menschen und hat ihren reichen Erfahrungsschatz nun in diesem Buch zusammengestellt. Sie ist approbierte Verhaltenstherapeutin. Wer nun damit rechnet, dass sie Fälle beschreibt, in denen sie Psychosen als gelerntes Verhalten wegkonditioniert, wird schnell erfahren, dass ihr Ansatz anders ist. Grundsätzlich sieht die Autorin die viel beschworene Vulnerabilität nicht als unumstößliches Merkmal, sondern fragt, woraus die besondere Sensibilität genau biografisch resultiert. Ein Erleben, das eine Klientin einmal so beschrieb, dass sie »total beeindruckbar von der Welt« sei. Sowohl in der Beschreibung des theoretischen Hintergrunds Schmidt-Hoffmanns – der Schematherapie und dem Modusmodell – als auch in den praktischen Beispielen erfahren wir, wie sie behutsam Zugang zu ihren Klienten findet. Sensibel beschreibt sie den oft unlösbar erlebten Widerspruch zwischen den Wünschen nach Eigenständigkeit und nach Zugehörigkeit. »Wie kann ich in Beziehung gehen, ohne dabei selbst verloren zu gehen?«, fragt eine Patientin in einer Gruppensitzung. Erfrischend ist, dass die Autorin zugleich betont, dass Menschen mit Psychoseerfahrung dieselben Konflikte erleben wie alle Menschen und dass sie doch die Besonderheiten im therapeutischen Umgang kenntlich macht. Sie versucht genau, die lange unterdrückten Sehnsüchte zu erspüren und zugleich das Schutz- und Kontrollbedürfnis, die Angst vor neuen Erfahrungen zu respektieren. Der Ausweg in die Psychose wird nicht als sinnfreies Geschehen interpretiert, sondern hatte zu gegebener Zeit seine guten Gründe. Differenziert trägt sie neueste Erkenntnisse über Verbindungen aus Traumaund Psychosetherapie vor.
Ich glaube, dass diese Toleranz für Gegensätze auf einer Entdeckung fußt, die sie schon in ihrer Dissertation »Nutzen und Risiken psychoedukativer Interventionen für die Krankheitsbewältigung bei schizophrenen Erkrankungen« mit einbezogen hatte, nämlich dem lange vernachlässigten Werte- und Entwicklungsquadrat von Friedemann Schulz von Thun aus seiner Buchreihe »Miteinander reden«. Während das Modell der »vier Ohren« und das »Innere Team« oft rezipiert wurden, führte dieses Modell ein Schattendasein und ist doch wunderbar geeignet, Zwischenschritte und -töne herauszuarbeiten und aus der Wahl zwischen falschen Alternativen herauszukommen. Mir gefällt beim Lesen, dass Schmidt-Hoffmann diese Haltung sowohl in ihrem Schreiben als auch in ihrer therapeutischen Arbeit verinnerlicht hat. Sie spricht wiederholt vom »Ausbalancieren von Spannungsverhältnissen« (S. 110). Als eine Aufgabe ihrer Arbeit beschreibt sie, die Klienten zu unterstützen, eine eigene Sprache für das Erlebte zu finden (S. 121 f.). Zugleich hat mich in einigen Passagen des Buches die sehr fachpsychologische Sprache gestört. Gerade die Arbeit mit dem Modusmodell hätte an einigen Stellen anschaulicher erklärt werden können. Dieses Modell ist hilfreich, weil es – vergleichbar mit dem Inneren Team oder der Transaktionsanalyse – mit den inneren Anteilen arbeitet, einen guten Zugang zu den sich widerstreitenden Emotionen schafft und eine gute Verstehenshilfe ist. Und Schmidt-Hoffmann wirbt für einen Einbezug von Emotionen in der Psychotherapie. Gefreut habe ich mich darüber, wie vollständig sie die Lebenswirklichkeit ihrer Klienten wahrnimmt: In dem Kapitel »Transfer in die Alltagswelt« wird deutlich, dass sie den Menschen, die zu ihr kommen, auch etwas zutraut und zumutet; dass sie glaubt, dass Patienten nicht immer in der Schonhaltung verharren müssen und Belastungen erproben können – ohne dass sie die Probleme der Erkrankung verharmlost. Sie unterstützt die Bedürfnisse nach Autonomie, nach Selbstfürsorge, nach Arbeit. Sie hat im Blick, wie die Menschen mit der Medikation zurechtkommen. Ein wahrer Fundus dieses Buches sind die zahlreichen Beispiele aus den Psychotherapien. Sehr beharrlich lotet sie mit den Klienten Grenzen zwischen sich und den anderen aus, manchmal auch im Hier und Jetzt die Grenzen zwischen dem Klienten und sich selbst. Leider sagt sie nur am Rande etwas zu gruppentherapeutischen Prozessen (wahrscheinlich in ihrer nächsten Veröffentlichung) und schweigt auch dazu, ob sie Erfahrungen in der Behandlung von Menschen mit bipolaren Störungen hat. Und was macht sie – das ist die Angst aller Therapeuten! –, wenn ein Patient wieder psychotisch wird? Es bleiben auch Fragen offen.
Ganz nebenbei erfährt man aus den Beispielen, dass Menschen zu ihr in Psychotherapie kommen, die sehr am Rande unserer Gesellschaft lebten: Eine Frau war mehrere Jahre obdachlos und hatte mehrjährige Psychiatrieaufenthalte; ein Mann hat nach mehreren psychotischen Schüben die Wohnung jahrelang nicht verlassen; viele Klienten leben in Übergangswohnheimen und erhalten Eingliederungshilfe. Auch das macht Mut und Neugierde. Es ist ein Buch, das man auch nach einmaliger Lektüre wieder zur Hand nehmen, nachblättern und nachlesen kann.
Torsten Flögel in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 17.04.2024