Wieso kommt ein solches Buch erst jetzt? Wieso ist niemand vorher auf die Idee gekommen? Angesichts der Tatsache, dass die An- und Zugehörigen von Menschen mit Borderlineerfahrung zumeist in erheblichem Umfang mitbetroffen sind, sind dies berechtigte Fragen. Nicht selten ist »die Familie« überfordert vom Leiden der Betroffenen. Höchste Zeit für »Familienskills« also.
Die Dialektisch-Behaviorale Therapie nach Marsha Linehan hat sich als hilfreiches Instrument erwiesen, Menschen mit Borderlineerfahrungen in ihrem Alltag zu unterstützen. Auf einer verhaltenstherapeutischen Ebene stärken sogenannte Skills die eigenen Fertigkeiten in der Bewältigung ihrer emotionalen Erfahrungen. Da hat sich der Familientherapeut Alan Fruzzetti die Frage gestellt, wieso diese Fertigkeiten nicht auch dem sozialen Umfeld der Betrof-fenen helfen sollen.
Mit dem Buch »DBT-Familienskills« liegt nun ein Buch vor, das die An- und Zugehörigen im Blick hat. Zu hoffen ist, dass es vielen Menschen im Umfeld von Menschen mit Borderlineerfahrungen nun leichter fällt, mit den Umständen umzugehen, da auch sie an den Rand der eigenen Belast-barkeit gehen. Neben der Konkretisierung der DBT-Familienskills resümieren Trasselli, von Auer und Gunia den State of the Art beispielsweise bei den Belastungen von Angehörigen. Sie unterstreichen, dass Angehörige meist unter chronischem Stress leiden. Unter anderem berichteten Familien verstärkt über intrafamiliäre Konflikte, auch von angespannten, dysfunktionalen Beziehungen.
Fruzzetti und Kolleginnen haben das Familiy Connections Programm entwickelt, das einzigartig ist, indem »es für Angehörige individuelle Skills sowie Familien- und Beziehungsskills bietet« (S. 31). Mithilfe dieser Skills könne besser mit emotionalen Reaktionen und Schwierigkeiten umgegangen werden. Trasselli, von Auer und Gunia betonen, dass Angehörige ein besseres Verständnis »für störungsbedingte Verhaltensweisen des betroffenen Familienmit-glieds und für Zusammenhänge zwischen der BPS und der Familienfunktionalität erhalten« (S. 31).
So bewegend und einschneidend Erfahrungen mit Menschen, die an einer Borderlinestörung leiden, sind, so wichtig erscheint eine realistische Einschätzung des möglichen Outcomes. Einen wesentlichen Beitrag dazu leistet das Kapitel zur »Hierarchie der Therapieziele in der Arbeit mit Familien«. Hier geht es um das Herstellen von Sicherheit, die Sensibilisierung für physische und sexuelle Gewalt sowie die Verschiebung positiver Verstärker für dysfunktionales Verhalten.
Einen breiten Raum nehmen im Buch die konkreten Module ein. Pragmatisch und praxisorientiert können sich betroffene Angehörige die Inhalte aneignen. Vor allem aber bietet das Buch psychiatrisch-psychotherapeutischen Tätigen ein Handwerkszeug für die Arbeit mit An- und Zugehörigen.
Dieses Buch gehört auf jeden Fall in die Hände aller psychiatrischen Tätigen, die mit Menschen mit Borderlineerfahrungen und ihren Familien (im weitesten Sinne des Begriffs) zu tun haben. Es geht darum, die Lebensqualität aller Beteiligten zu erhöhen. Eine Möglichkeit, die besonders im Gedächtnis bleibt, ist, durch Tanz die »Achtsamkeit in der Beziehung zu üben« (S. 229). Der Tango erfordere, »dass ich mich selbst, aber auch die Tanzpartnerin achtsam wahrnehme« (S. 229). Es ist zu hoffen, dass die wichtigen Im-pulse dieses Buches ihren Weg in die Praxis finden.
Christoph Müller in Psychosoziale Umschau
Letzte Aktualisierung: 17.04.2024